Medienwandel. Joseph Garncarz

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den Anstrengungen des Lebens zu ermöglichen. Wer sich nicht erholt, ist auf Dauer nicht mehr in der Lage, effektiv zu arbeiten und den eigenen Alltag zu bewältigen. Unterhaltung kann aber auch dem Zweck dienen, Menschen ein gewisses Erregungsniveau zu ermöglichen, das ihnen im Alltag fehlt – wie das etwa bei Bewohnern von Altenheimen oder Häftlingen in Gefängnissen der Fall sein kann. Unterhaltung kann darüber hinaus natürlich auch – darin besteht eine Ähnlichkeit zum Spiel – dem Probehandeln dienen, etwa wenn Zuschauer von Fernsehserien oder -filmen Liebes- und Familienbeziehungen gedanklich und emotional durchspielen oder lernen, mit Emotionen wie Eifersucht und Hass umzugehen. Die Emotionen, die sich beim Zuschauer von fiktionalen Fernsehserien oder Filmen einstellen, sind nicht virtuell, sondern real. Freude, Ekel, Verachtung oder Liebe werden wirklich empfunden.

      Was Menschen unterhält, ist in einem erheblichen Maß hinsichtlich der Kultur, der sozialen Schicht, der Psyche, des Geschlechts, der Religionszugehörigkeit differenziert, sodass bestimmten Menschen bestimmte Formen an Unterhaltungsangeboten gefallen. Man kann auch sagen, Unterhaltung hängt von Werten ab. Werte sind »innere Führungsgrößen des menschlichen Tuns und Lassens, die überall dort wirksam werden, wo nicht biologische ›Triebe‹, Zwänge oder ›rationale‹ Nutzenerwägungen den Ausschlag geben.«12 Werte müssen nicht für alle Menschen verbindlich sein. Sie können sich nicht nur hinsichtlich Alter, Geschlecht und Bildung eines Menschen, sondern auch hinsichtlich seiner Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder Nation unterscheiden. Die Werte bestimmter sozialer Gruppen verändern sich oft über einen längeren Zeitraum; ändern sie sich, spricht[27] man von einem Wertewandel (siehe dazu Kapitel 17).

      Was von Menschen als unterhaltsam empfunden wird, hängt u. a. von religiösen Werten ab. So ist Bollywood bei Muslimen in Asien und Afrika beliebter als Hollywood, und Hollywoodfilme gelten in einem stärkeren Maß als Gefährdung der eigenen Moral.

      »While many Muslims [rund 40 % außerhalb Europas] say they personally like Western music, movies and television, most Muslims [67,7 %] also agree that Western popular culture has hurt morality in their countries. On balance, more Muslims say they like Bollywood movies and music than say the same about Western entertainment [etwa im Verhältnis 50 zu 40 %]. Muslims also see Bollywood as less harmful to morality than Western popular culture is [rund 44 gegenüber 66 %].«13

      Dass Zweidrittel der nicht-europäischen Muslime glauben, Popmusik und Hollywood hätten einen negativen Einfluss auf die Moral, ist gut nachvollziehbar. Während 85 % aller Muslime glauben, Frauen müssten ihren Männern immer gehorchen, triumphieren in der angloamerikanischen Popmusik (u. a. Madonna, Lady Gaga) und in US-Fernsehserien (u. a. SEX AND THE CITY) Frauen, die ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen – hinsichtlich der eigenen Meinung, der Berufs- und Partnerwahl und nicht zuletzt auch hinsichtlich ihrer Sexualität.

      Unterhaltung ist in einem erheblichen Maß kulturell und sozial differenziert. So können sich die Filmpräferenzen zwischen den Publika verschiedener Länder ebenso unterscheiden wie die Filmvorlieben verschiedener sozialer Gruppen.

      Kapitel 8 und 9 zeigen, wie die Filmpräferenzen unterschiedlicher Kinopublika kulturell und sozial differenziert sind.

      Kapitel 8 handelt von kulturell differenzierten Filmpräferenzen im Europa der 1930er-Jahre. So unterscheiden sich die beim französischen, deutschen, britischen, niederländischen, österreichischen, tschechoslowakischen, polnischen bzw. norwegischen Publikum erfolgreichsten 30 Filme so stark voneinander, dass es so gut wie keine gemeinsamen Top-Filme gab. Die Zuschauer dieser Länder liebten vor allem Filme aus dem jeweils eigenen Land und sahen zudem diejenigen ausländischen Filme gerne, die optimal kulturkompatibel waren.

      Kapitel 9 widerspricht der weit verbreiteten Auffassung, dass Charles Chaplins Filme bei allen Menschen gleichermaßen populär waren. Die Studie zeigt, dass Chaplins Filme in der Weimarer Zeit nur bei bestimmten Teilen des Publikums erfolgreich waren. So wurden Chaplin-Filme stärker in Groß- als in Kleinstädten geschätzt. Von der großstädtischen Bevölkerung wiederum gehörten vor allem Intellektuelle und Arbeiter zum Stammpublikum Chaplins.

      [28]Die Vorlieben der Menschen für die angebotene Unterhaltung sind darüber hinaus auch hinsichtlich ihrer Persönlichkeit differenziert. Sogenannte High Sensation Seeker bevorzugen körperlich fordernde Unterhaltung (Gleitschirmfliegen, Bungeejumping, Achterbahnfahren), während Low Sensation Seeker eher rezeptive Unterhaltungsformen vorziehen (Fernsehen, Musikhören). In Bezug auf die Unterhaltungsformen, bei denen der Nutzer in der Rolle des Zuschauers bzw. -hörers ist, mögen High Sensation Seeker lieber Actionfilme und Rockmusik, während Low Sensation Seeker sich eher an Beziehungsdramen und klassischer Musik erfreuen.14

      Die Grundfunktionen der Medien treten oft in Kombination auf, wobei eine Funktion primär, eine andere sekundär ist. In einem Telefonat mit dem Partner mag es primär um den Austausch von Zärtlichkeiten gehen, was aber nicht ausschließt, dass dabei auch Neuigkeiten über die Erlebnisse des Tages mitgeteilt werden. Eine Unterhaltungssendung wie WER WIRD MILLIONÄR? will primär unterhalten, bildet aber ohne Zweifel auch. Wer hier nichts Neues erfährt, ist ein sicherer Gewinner der Million! Ein wissenschaftliches Buch vermittelt in erster Linie Wissen, kann dies aber in einer Art machen, die dem Lernenden Freude macht. Der Lernerfolg wird sogar umso größer sein, je mehr Vergnügen das Lernen macht.

      In Bezug auf die gegebene Bestimmung der Grundfunktionen der Medien können zwei Abgrenzungen vorgenommen werden. Die erste bezieht sich auf die Frage, ob Kunst eine eigenständige Grundfunktion der Medien ist, und die zweite grenzt die gegebene von der weit verbreiteten stark politisch motivierten Definition ab.

      Zu 1.: Mit Kunst kann man ohne Zweifel kommunizieren, aber auch bilden und unterhalten. Werke der Kunst vermitteln mitunter Ideen (wie die der religiösen Toleranz in Gotthold Ephraim Lessings NATHAN DER WEISE [1783 uraufgeführt]) oder eröffnen neue Sichtweisen (wie Literatur aus anderen Kulturen). Die Übertragung einer Opernaufführung im Fernsehen kann bilden (»eine große Inszenierung«, »ein bedeutendes Werk der Musikgeschichte«), aber auch unterhalten. Man kann den Unterhaltungswert von Kunst als ein distinguiertes Vergnügen von Kunstsinnigen definieren; Kunst lässt sich demnach also als eine Form der Unterhaltung für Gebildete verstehen. Dieses besondere Vergnügen setzt eine Kennerschaft voraus. Kennt man ein Theaterstück wie Lessings NATHAN DER WEISE oder ein Werk der Chormusik wie Giuseppe Verdis MESSA DA REQUIEM (1874 uraufgeführt), so wird man an einer bestimmten Aufführung ein besonderes Vergnügen (oder auch ein besonderes Missvergnügen) haben, das derjenige nicht hat, der mit den Werken nicht vertraut ist. Kunst oder ästhetische Kommunikation ist demnach keine eigenständige Grundfunktion, sondern hinreichend durch die drei genannten Grundfunktionen erfasst.

      [29]Zu 2.: In demokratischen Gesellschaften wird der Medienbegriff oft auf die sogenannten Massenmedien verkürzt und ihre Grundfunktionen dann so definiert, dass sie den Zielen der Demokratie entsprechen. Presse, Radio und Fernsehen sollen sachgerecht informieren, zur Meinungsbildung der Bürger beitragen und durch eine kritische Berichterstattung staatliche Entscheidungsträger kontrollieren.

      »Die Massenmedien sollen so vollständig, sachlich und verständlich wie möglich informieren, damit ihre Nutzerinnen und Nutzer in der Lage sind, das öffentliche Geschehen zu verfolgen. Mit ihren Informationen sollen sie dafür sorgen, daß die einzelnen Bürgerinnen und Bürger die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zusammenhänge begreifen, die demokratische Verfassungsordnung verstehen, ihre Interessenlage erkennen und über die Absichten und Handlungen aller am politischen Prozeß Beteiligten so unterrichtet sind, daß sie selbst aktiv daran teilnehmen können – als Wählende, als Mitglieder einer Partei oder auch einer Bürgerinitiative. […] Im parlamentarischen Regierungssystem obliegt in erster Linie der Opposition die Aufgabe der Kritik und Kontrolle. Diese wird unterstützt und ergänzt durch die Kritik- und Kontrollfunktion der Medien.«15

      Als Grundfunktionen der Medien gelten in diesem Sinn also Information, Meinungsbildung und Kontrolle. Die Idee dabei ist,

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