Medienwandel. Joseph Garncarz
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In diesem Buch gibt es mehrere Fallstudien, die Strukturen eines ungeplanten Medienwandels herausarbeiten.
Kapitel 6 macht deutlich, dass Filme zunächst in transportablen Kinos ausgewertet wurden, die auf Jahrmärkten aufgebaut wurden. Wie in anderen Schaubuden (z. B. mobilen Varietés, Illusionsbuden) wurde das über den Jahrmarkt flanierende Publikum mit Kurzfilmprogrammen angelockt, die den Zuschauer mit besonderen visuellen Reizen in Erstaunen versetzten. Wie Kapitel 7 zeigt,[37] etablierten sich etwa zehn Jahre nach der Einführung der Medientechnologie Film in den Markt ortsfeste Kinos, die zunächst ein vergleichbares Filmprogramm boten, dann jedoch mit erzählenden Filmen, den sogenannten Kinodramen, erfolgreich wurden. Die ortsfesten Kinos, die täglich spielten, verdrängten die Jahrmarktkinos innerhalb eines Jahrzehntes vom Markt.
Kapitel 17 zeigt Strukturen des Wandels in Bezug auf die populären Kinofilme. Die beim deutschen Publikum populären Kinofilme lassen sich in drei Phasen einteilen, je nachdem welches Land die meisten Filmerfolge stellt: Zwischen 1925 – dem Beginn der Erhebung über den Filmerfolg – und 1963 waren deutschsprachige Filme unangefochten erfolgreich: Der ganz überwiegende Teil aller erfolgreichen Filme kam in dieser ersten Phase aus deutscher bzw. österreichischer Produktion. In der zweiten Phase, 1964 bis 1979, wurden Filme der westeuropäischen Nachbarländer vom deutschen Kinopublikum favorisiert (weshalb ich sie auch als Europaphase bezeichne). Seit Beginn der 1970er-Jahre gewinnen jedoch US-Filme zunehmend an Popularität. In der dritten Phase, die 1980 beginnt, sind US-Filme beim deutschen Kinopublikum dann so populär wie in der ersten Phase die deutschen.
Die genannten Kapitel beschreiben die Strukturen des Wandels nicht nur, sondern erklären, warum sie sich in eine ganz bestimmte Richtung entwickeln.
Wandlungsprozesse, die eine klare Struktur aufweisen, entwickeln sich immer in eine bestimmte, analysierbare Richtung. Diese kann in einer zunehmenden Vereinheitlichung oder Differenzierung, in einer zunehmenden Integration oder Desintegration und in einer zunehmenden Konvergenz oder Divergenz bestehen. Solche Prozesse sind also grundsätzlich bipolar.
Ich greife als Beispiel einen konvergenten Prozess heraus. Konvergenz bezeichnet in allen Wissenschaften – von der Mathematik über die Physik bis zur Meteorologie – immer einen Prozess, in dessen Verlauf zwei gleiche oder vergleichbare Ereignisse zusammenlaufen – seien es Linien, Lichtstrahlen oder Meeresströmungen. Grundsätzlich lassen sich dabei zwei Formen der Konvergenz unterschieden: eine Angleichung, die von beiden Seiten, und eine, die nur von einer Seite ausgeht (was auch als beiderseitige bzw. einseitige Konvergenz bezeichnet wird).
Konvergenz kann es im Medienbereich auf ganz unterschiedlicher Ebene geben. Bekannt und viel diskutiert sind dabei 1. die Konvergenz im medientechnologischen Bereich und 2. die Konvergenz von Fernsehprogrammen. In den letzten Jahren haben technische Endgeräte Karriere gemacht, die Nutzungsmöglichkeiten, die bisher auf verschiedene Geräte verteilt waren, in einem einzigen Gerät integrieren. Das Smartphone, das u. a. als Telefon, Computer und MP3-Player genutzt werden kann, ist dafür ein gutes Beispiel. In Deutschland gibt es zudem[38] einen Prozess der Angleichung der Fernsehprogramme öffentlich-rechtlicher und privater Sender. Betrachtet man die Entwicklung der Programme der öffentlichrechtlichen und der privaten Sender seit Mitte der 1980er-Jahre aus der Distanz, so kann man einen beiderseitigen Konvergenzprozess beobachten. Die öffentlich-rechtlichen Sender haben ihren Schwerpunkt in der vom Gesetzgeber für Vollprogramme vorgeschriebenen Grundversorgung mit Nachrichten, während sich die privaten Fernsehsender stärker um die Unterhaltung ihrer Zuschauer bemühen. Die privaten Sender haben die Nachrichtenformate der öffentlich-rechtlichen übernommen und weiterentwickelt (»Infotainment«). Die öffentlichrechtlichen Sender haben ihrerseits von den privaten Sendern entwickelte Mediennutzungsformen wie die Dokusoap und die Pseudo-Dokusoap adaptiert. Von daher muss man von einem beiderseitigen Konvergenzprozess öffentlich-rechtlicher und privater Fernsehprogramme sprechen, der sich seit Mitte der 1980er-Jahre vollzogen hat.
Kapitel 17 zeigt einen Konvergenzprozess, die Angleichung der Filmpräferenzen in Europa. Die Kinopublika von Deutschland, Frankreich und Italien haben in den 1950er-Jahren im Wesentlichen die Filme des eigenen Landes favorisiert. Es gab nur sehr wenige Titel, die in allen drei Ländern in die Top Ten kamen. Seit den 1980er-Jahren vollzog sich ein Angleichungsprozess derart, dass die Zahl der in allen drei Ländern sehr erfolgreichen Filme signifikant größer wurde. Zugleich bietet dieses Kapitel ein Beispiel für einen einseitigen Konvergenzprozess: Die Präferenzen des europäischen Publikums wurden denen des US-amerikanischen ähnlicher, was umgekehrt eben nicht der Fall war.
Wandlungsprozesse sind zudem grundsätzlich umkehrbar. Sie müssen also nicht dauerhaft in eine Richtung laufen, sondern können sich durchaus auch wieder in die gegenteilige Richtung entwickeln. So muss sich ein medialer Konvergenzprozess, wie er in Kapitel 17 für Europa beschrieben wird, nicht immer weiter fortsetzen, bis er die ganze Welt umfasst. Zunehmende Gemeinsamkeiten der Filmpräferenzen in verschiedenen europäischen Ländern können durchaus wieder von stärkeren nationalen Vorlieben abgelöst werden.
Die Struktur und Richtung eines Wandlungsprozesses vollzieht sich immer in konkreten kulturgeografischen Kontexten. Dies können Regionen, Länder, Kontinente oder auch die Welt insgesamt sein. Nationen waren im 20. Jahrhundert die primären Überlebenseinheiten, in denen sich überwiegend Menschen der gleichen Sprach- und Kulturgemeinschaft organisiert hatten. So bildeten Kinozuschauer eines Landes über Jahrzehnte – ich gehe u. a. in Kapitel 8 darauf ein – starke gemeinsame Präferenzen aus, die sie von Kinozuschauern anderer Länder unterschieden. Da es diese Präferenzunterschiede gab, stehen auf den Listen der erfolgreichsten[39] Filme verschiedener Länder von den 1920er- zu den 1950er-Jahren überwiegend andere Filmtitel. Solche kulturgeografischen Referenzsysteme können sich jedoch verändern, weil sich zum Beispiel die Präferenzen der Kinozuschauer verschiedener Länder wie beschrieben angleichen. Das Referenzsystem sind dann nicht mehr einzelne Länder, sondern supranationale Regionen wie zum Beispiel Europa.
[40][41]3. Wie lässt sich Medienwandel beschreiben?
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Frage der Methodologie der Medienhistoriografie. Wie Mediengeschichte geschrieben wird, ist von Disziplinen abhängig. Disziplinen sind Einzelfächer, die man an Universitäten studieren kann. In Deutschland beschäftigen sich viele Disziplinen mit Medien, allen voran die Medienwissenschaft (auch Medienkulturwissenschaft genannt) und die Kommunikationswissenschaft. Literaturwissenschaftler neigen aufgrund ihrer Ausbildung zum Umgang mit Texten; sie interessieren sich in einem besonderen Maß für Mediengeschichte als Diskursgeschichte. Kommunikationswissenschaftler legen dagegen mehr Wert auf eine Analyse der Medien selbst und interessieren sich für den Diskurs oft nur, insofern dieser einen Einfluss auf die Medienentwicklung hatte. Da die kulturwissenschaftliche Medienwissenschaft in Deutschland von den Literaturwissenschaften dominiert wird, konzentrierte sich zum Beispiel die Analyse des frühen Kinos zunächst in einem erheblichen Maß auf die Diskurse der Kinoreformer bzw. der Schriftsteller, während die Frage, wie das Medium Film als Kino etabliert wurde, weniger Aufmerksamkeit fand.
Disziplinen sind nicht neutral, sondern schaffen und verteidigen bestimmte Fragestellungen und Analysemethoden. So ist die Medienwissenschaft, die aus der Literatur- und Theaterwissenschaft entstanden ist, in einem besonderen Maß an den medialen Produkten, den Mediennutzungsformen, interessiert und bedient sich hermeneutischer Methoden. Die Kommunikationswissenschaft stellt dagegen stärker die Frage der Mediennutzung und -wirkung in den Vordergrund und bedient sich vor allem empirischer Methoden. Disziplinen konstruieren ihren Gegenstand auf je besondere Art und Weise und weisen, oft vehement, analytische Instrumente von sich, die ihrer Meinung nach fachfremd sind.
Der Autor dieses Buchs ist der Überzeugung, dass sich die Forschung von solchen akademischen Zwängen stärker freischwimmen sollte. Anstatt den Untersuchungsgegenstand auf fachspezifische Weise zu konstruieren, ist es sinnvoller, von Fragen und Problemen auszugehen, die gelöst werden