Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele

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Allgemeine Staatslehre - Alexander Thiele

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bisweilen angenommen wird.[323] Entscheidend ist vielmehr ihre veränderte mitgliedschaftliche Struktur. Während vorhochkulturelle Gesellschaften zwar komplex aber gleichwohl verwandtschaftlich organisiert waren, gelang es den staatlichen Hochkulturen auch nicht-verwandte Personen in das Gesellschaftssystem als ordentliche Mitglieder (und nicht als reine Sklaven) zu integrieren. Die Mitgliedschaft in der Gesellschaft wurde von der verwandtschaftlichen und positiven Reziprozität gelöst,[324] der Führungsanspruch des Häuptlings beruhte nicht mehr auf familiär-traditionellen, sondern anderen Kriterien und konnte dadurch auch von nicht verwandten Mitgliedern akzeptiert werden (balancierte Reziprozität).[325] Dass die Verwandtschaft im Hinblick auf die soziale Stellung weiterhin eine Rolle spielte, versteht sich von selbst (und ist in vielen modernen Staaten bis heute der Fall). Im Übrigen aber lösten sich die Herrscher aus den Bindungen der Verwandtschaftssysteme und gewannen an Entscheidungsfreiheit und Bestimmungsgewalt. Diese in der veränderten Mitgliederstruktur neuartige Integrationsleistung wird man im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Entstehung moderner Staatlichkeit kaum überbewerten können. Umso beachtlicher ist der Umstand, dass sich solche hochkulturellen Gesellschaften praktisch auf allen Erdteilen unabhängig voneinander herausbildeten, wenn auch zeitlich auseinanderliegend. Es handelte sich also mitnichten um eine europäische Entwicklung:[326] Zunächst in Mesopotamien (in den sumerischen Städten bereits um 3500 v. Chr.), sodann in China und Südamerika.[327] Ägypten dürfte ebenfalls als Beispiel einer unabhängigen originären Staatsentstehung anzusehen sein, wenngleich wohl bereits frühzeitig Handelsbeziehungen zu Mesopotamien bestanden.[328] Im Industal ist die archäologische Forschung nicht ganz eindeutig, gleichwohl wird man der Harappa-Kultur[329] |61|(um 2300 v. Chr.) Eigenständigkeit und Unabhängigkeit in der Entstehung zusprechen können. Die genauen Hintergründe und Voraussetzungen dieser Entwicklung sind weiterhin nicht umfassend geklärt.[330] Am wahrscheinlichsten dürfte eine Mischung aus institutionell-organisatorischen Herausforderungen der neolithischen Revolution (vor allem im Hinblick auf die nunmehr begrenzte Territorialität der Anbauflächen) und eines sich daraus ergebenden kognitiven Wandels sein,[331] mithin eines veränderten Weltbildes, bei dem vor allem die frühen Tempelanlagen und die Tempelwirtschaft eine entscheidende Rolle spielten. Hinzu kommt die zuerst in Mesopotamien zu beobachtende Urbanisierung[332] und die Bevölkerungsstruktur. Unabhängige Hochkulturen entwickeln sich nur in wenigen Kerngebieten mit hoher Bevölkerungsdichte, in denen ein größeres Netzwerk politischer Herrschaftsgebilde („Cluster“) entsteht,[333] die in einem permanenten auch kriegerischen Wettbewerb zueinander stehen.[334] Hier wird die archäologische Forschung weitere Erkenntnisse liefern, die neben der (politischen) Anthropologie und der historischen Soziologie vornehmlich gefordert ist. Hinzu kommt die Sozio-Biologie, die erhellende Einblicke liefern kann, wie zuletzt Mark W. Moffett gezeigt hat.[335] Die Allgemeine Staatslehre, die sich nicht als genuin historische Wissenschaft ansehen sollte und dem Anspruch, das Wesen der Staatlichkeit auch in geschichtlicher Perspektive zu ergründen von vornherein nicht gerecht werden könnte, kann dazu nur wenig beitragen. Gleichwohl kann sie bei einer Beschreibung der heutigen Staatenwelt und der heutigen Herausforderungen in zumindest drei Bereichen von den Erkenntnissen bezüglich der Entstehung der ersten staatlichen Strukturen und ihrer Prozesshaftigkeit profitieren:

       |62|Erstens im Hinblick auf den Begriff des Politischen, der in seinem Inhalt nicht vorschnell mit den politischen Institutionen des modernen europäischen Staates oder wie bei Georg Jellinek überhaupt mit dem Begriff des Staates verknüpft werden sollte.[336] Politisches Handeln in Form von Herrschafts- und Machtausübung[337] im Weber’schen Sinn und darin begründeter sozialer Schichtung hat es seit jeher und nicht nur in Europa gegeben. Das Politische[338] wird insofern durch den Bezugspunkt der Herrschaft konstituiert. Adressat und Autor der kollektiv verbindlichen Entscheidung ist das öffentliche Gemeinwesen, auch wenn lediglich Einzelne durch die Entscheidung betroffen sind oder die Entscheidung durch Einzelne getroffen wird. Das entspricht dem ursprünglichen Sinn des Begriffs, der auf die Polis und damit auf die überindividuelle öffentliche, nicht ausschließlich private Bedeutung von Entscheidungen verweist.[339] Die Bestimmung des Politischen ist daher auch von den Betroffenen und den Akteuren des Gemeinwesens abhängig und damit von den Anschauungen der politischen Gemeinschaft geprägt.[340] Damit ist die verbindliche Entscheidung individueller Konflikte durch ein Gemeinwesen nichts anderes als politische Herrschaftsausübung – und die findet sich in allen frühen Gesellschaftsformen, die daher als politisch angesehen werden können und müssen. Politische Herrschaft ist nicht zwingend an ein bestimmtes, fest umgrenztes Territorium gebunden, wenngleich sie sich regelmäßig dort auswirkt,[341] hängt aber auch nicht an einem irgendwie gearteten Gewaltmonopol.[342] Wie solche Entscheidungen zustande kamen und woraus sie ihre Legitimität schöpften ist auch für eine moderne Allgemeine Staatslehre bedeutend. Der Staat, erst recht der moderne Staat, ist dagegen eine spätere Entwicklungsstufe, die in komplexeren Gesellschaften entstehen kann und durch eine Ausdifferenzierung verschiedener Herrschaftsfunktionen und -strukturen gekennzeichnet ist. Er ist natürlich politisch, bildet aber nicht den gesamten Raum des Politischen ab.

       |63|Zweitens im Hinblick auf das Verständnis des Wandels von Staatlichkeit. Solche transformatorischen Prozesse lassen sich auch in vorstaatlichen Strukturen nachweisen und machen nachgerade das Wesen jeder (politischen) Gemeinschaft aus. Darüber wie ein solcher Wandel unter welchen Voraussetzungen friedlich ablaufen kann, lassen sich durch diesen Blick zurück auch heutige Transformationsprozesse besser einordnen und verstehen. Hier werden zu einem gewissen Grad wohl auch genuin menschliche Eigenschaften wirksam, die ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Jedenfalls wäre es verfehlt zu glauben, dass die ersten Gemeinschaften bis zur Ankunft der Europäer keine solchen Prozesse durchlaufen hätten.

       Schließlich und drittens dürften die Integrationsleistungen (insbesondere der ersten Hochkulturen) auch für das Verständnis heutiger Integrationsbemühungen von Interesse sein (Stichwort: Flüchtlingskrise). Wie konnte es gelingen, nicht-verwandte Personen in die Gesellschaft aufzunehmen? Lässt sich eine solche Integrationsleistung wiederholen? Die Ausweitung der Reziprozitätsleistungen auf nicht-verwandte „fremde“ Personen bleibt eine staatliche Daueraufgabe, selbst wenn man diesen Vorgang nicht wie Rudolf Smend sogar als nachgerade staatskonstituierend ansieht.

      b) Derivative Staatsentstehung

      Während originäre Staatsentstehung ein historischer Vorgang ist, sind Formen derivativer (abgeleiteter) Staatsentstehung auf Territorien, die schon zuvor zu einem Staat gehörten, immer wieder auf der Tagesordnung. Jüngste Beispiele sind der Südsudan (2011), das Kosovo (2008) oder Montenegro (2006). Nordmazedonien existiert zwar erst seit Anfang 2019, Hintergrund bildete jedoch lediglich die mit Griechenland nach langen Verhandlungen vereinbarte Umbenennung der bereits seit 1991 bestehenden Republik Mazedonien (eine Veränderung der politischen Organisation war damit nicht verbunden). Die aktuelle Staatenwelt präsentiert immer eine Momentaufnahme, die konstanter Veränderung unterliegt. Aus völkerrechtlicher Perspektive – und diese ist in dieser Hinsicht zentral – lassen sich fünf Formen derivativer Staatsentstehung unterscheiden. Für alle lassen sich historische Beispiele angeben:

       Dismembration. Diese bezeichnet den Zerfall eines modernen Staates in zwei oder mehr neue Staaten, die umfänglich an die Stelle des bisherigen Staates treten.[343] Der alte Staat geht vollständig unter. Als Völkerrechtssubjekte sind die neuen Staaten mit dem alten Staat nicht mehr identisch (ohne dass damit etwas über mögliche völkerrechtliche Haftungsfragen |64|ausgesagt wäre). Historisch unumstrittene Beispiele bilden der Zerfall der Donau-Monarchie Österreich-Ungarn in die Staaten Österreich, Ungarn, Tschechoslowakei, Jugoslawien (1918), der Tschechoslowakischen Bundesrepublik in die Staaten Tschechische und Slowakische Republik (1993) sowie der Untergang der ehemaligen UdSSR Ende 1991. Umstritten ist die Einordnung des Zerfalls Jugoslawiens (1992).

       Sezession. Bei der Sezession spaltet sich ein Teilgebiet eines bestehenden Staates ab, auf dem sodann ein neuer Staat gegründet wird. Der alte Staat bleibt in veränderter territorialer Gestalt bestehen. Die Voraussetzungen unter denen eine solche Abspaltung zulässig ist – nicht zuletzt die Relevanz des Selbstbestimmungsrechts der Völker –, sind völkerrechtlich

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