Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele

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Allgemeine Staatslehre - Alexander Thiele

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Staates Griechenland durch Abspaltung vom Osmanischen Reich (1830), die Sezession Belgiens vom Königreich der Niederlande (1830) oder die Gründung des Irischen Freistaats durch Abspaltung vom Vereinigten Königreich (1922). Aktuelle Sezessionsbewegungen finden sich in Katalonien (zu Spanien gehörend) und – vor dem Hintergrund des Brexit – in Schottland (zum Vereinigten Königreich gehörend).[344]

       Annexion. Die Annexion meint die erzwungene (einseitige) Eingliederung eines fremden Staatsgebiets (entweder vollständig oder teilweise) in das Territorium eines anderen Staates; es geht um gewaltsamen Gebietserwerb auf Kosten eines anderen Staates.[345] Völkerrechtlich ist ein solches Vorgehen stets unzulässig, was nicht dazu führt, dass es in der Staatenpraxis unterbleiben würde. Bei einer teilweisen Annexion bleibt der Rest-Staat neben dem annektierenden Staat bestehen. Bei einer vollständigen Annexion geht der annektierte Staat (faktisch) unter. Historische Beispiele finden sich zahlreich, erwähnt sei die Annexion Tschechiens durch das Deutsche Reich im Jahr 1939 sowie die Annexion der Krim (der Ukraine zugehörig) durch Russland im Jahr 2014.[346]

       |65|Beitritt. Der Beitritt (oder Inkorporation) bezeichnet die konsentierte territoriale Übernahme eines Staates durch einen anderen.[347] Der beitretende Staat geht unter, während sich der andere Staat um das Territorium des untergegangenen Staates vergrößert. Beispiel ist der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik im Jahr 1990.

       Fusion. Hier gehen zwei oder mehr Staaten zusammen und gründen auf ihren bisherigen Territorien einen gemeinsamen neuen Staat. Die bisherigen Staaten gehen unter. Beispiele bilden die Errichtung der Schweiz im Jahr 1815 oder die Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871.

      Während die Systematisierung dieser Staatsentstehungsprozesse und die Entwicklung einer Anerkennungs- aber auch einer Nachfolge- und Haftungslehre dem Völkerrecht obliegen,[348] kann die Allgemeine Staatslehre auch mit ihrem partiell historischen Blick zu einem besseren Verständnis der Prozesse beitragen. Relevant sind einerseits die internen Transformationsprozesse und andererseits die Voraussetzungen, unter denen solche erfolgreich und das heißt vor allem friedlich ablaufen können.[349] Dass auch die früh-historischen Transformations- und Wandlungsprozesse von segmentären Gesellschaften zu staatlichen Hochkulturen von Interesse sind, ist bereits erwähnt worden.

      2. Transformatorische Prozesse und Verfassungsgebung

      Damit sind wir bei einer näheren Betrachtung dieser innerstaatlichen transformatorischen Prozesse. Im Ergebnis kann nach dem soeben Gesagten keine politische Ordnung davon ausgehen, in ihrer bestehenden Ausgestaltung dauerhaft Bestand zu haben. Das gilt selbst für vermeintlich gefestigte demokratische Verfassungsstaaten, wie die aktuellen Entwicklungen in den USA, Großbritannien oder Indien zeigen.[350] Diesen Umstand unter Berufung auf ein vermeintliches Ende der Geschichte zu ignorieren, erweist sich insofern als erstaunlich geschichtslos. Jede politische Ordnung ist fragil, weil sie einen Gleichgewichtszustand gerade in sozialer Hinsicht nie umfassend zu verwirklichen vermag.[351] Die Legitimität einer Herrschaftsordnung ist kein |66|statisches Faktum, ist nichts für die Ewigkeit. Damit stellt sich für die Allgemeine Staatslehre die Frage nach dem Wesen solcher Veränderungen und nach typischen (auch historischen) Mustern dieser Wandlungsprozesse, die sich möglicherweise verallgemeinern lassen und mit deren Hilfe aktuelle Ereignisse dieser Art – etwa im Hinblick auf die Vorgänge in westlichen Demokratien – besser eingeordnet und verstanden werden können. In dieser Hinsicht wird man, geordnet nach ihrer Intensität, vier transformatorische Prozesse unterscheiden können (a–d), die in einer (neuen) Verfassung münden können, wobei der Prozess der Verfassungsgebung wiederum gewissen Regelmäßigkeiten folgt (e). Ihren Ausgangspunkt dürften sämtliche dieser transformatorischen Wandlungen in wie auch immer gearteten Legitimitätsdefiziten des bestehenden Systems haben.[352] Idealerweise ist eine neue Verfassung (respektive eine neue Interpretation der alten) dann in der Lage, die erforderliche Legitimität[353] zu generieren, die für den (stets vorläufigen) Bestand der neuen politischen Ordnung erforderlich ist.

      a) Stiller Verfassungswandel

      Mehr oder weniger im Hintergrund und von keiner zentralen Instanz koordiniert läuft der stille Verfassungswandel ab. Es handelt sich nicht um formale Änderungen der Verfassung,[354] sondern um ein im Laufe der Zeit verändertes Verständnis zentraler Verfassungsbestimmungen, die zur Gewährleistung der erforderlichen Legitimität an den gesellschaftlichen Zeitgeist angepasst werden, ohne ihren Wortlaut zu verändern.[355] Mit der veränderten Interpretation der Verfassung verändert sich so zugleich das Fundament auf dem die politische Ordnung errichtet ist. An die Existenz einer geschriebenen Verfassung ist ein solcher Wandel nicht geknüpft. Er findet auch in Staaten wie Großbritannien,[356] Neuseeland oder Israel statt, ist bei einer geschriebenen Verfassung allerdings zwangsläufig einfacher feststellbar (dafür aber möglicherweise auch verfassungstheoretisch problematischer). Das Problem eines solchen Wandels ist offenkundig. Es liegt in dem dunklen und dadurch undurchsichtigen Prozess, der entsprechende Veränderungen hervorbringt und der damit zusammenhängenden unklaren demokratischen Legitimation der neuen Interpretation bereits seit Jahrzehnten oder sogar länger bestehenden Verfassungsrechts.[357] Andererseits sind Verfassungsbestimmungen |67|vergleichsweise offen formuliert und ermöglichen dadurch die Implementierung veränderter Verständnisse, wollen das partiell sogar.[358] Eine Verfassungsordnung, die stets die politische Grundlage der aktuellen Gesellschaft abbilden und die notwendige Legitimität der aktuellen politischen Ordnung herzustellen in der Lage sein muss, allzu starr zu interpretieren und keinerlei Veränderung zuzulassen erscheint insofern verfehlt. Die Auslegung der Verfassung nach der Idee des „original intent“,[359] wie sie teilweise in den USA präferiert wird,[360] ist vielleicht auf den ersten Blick besonders demokratisch, riskiert aber den Bestand der politischen Ordnung selbst, weil die Bedürfnisse und Vorstellungen der aktuellen Generation nicht hinreichend berücksichtigt werden – gerade in Systemen wie den USA, in denen eine formelle Verfassungsänderung auf kaum zu überwindende prozessuale Hürden trifft.[361] Den richtigen Weg zwischen Verstarrung und interpretatorischer Beliebigkeit zu betreten ist für den dauerhaften Bestand eines politischen Systems und einer Verfassungsordnung essentiell. Diesen Weg zu weisen und dem stillen Verfassungswandel Grenzen zu setzen, bildet eine konstante Aufgabe der Verfassungstheorie,[362] der juristischen Methodenlehre[363] aber auch der Allgemeinen Staatslehre, die sich zumindest auch als normative Wissenschaft versteht. Sie kann zudem Beispiele aufzeigen, in denen dieses Spannungsverhältnis in schonender Weise aufgelöst worden ist. Die Aktualität dieser Fragen zeigt sich in Deutschland an der Diskussion um den Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG,[364] zuvor bereits bei der Auslegung des Art. 68 GG (Vertrauensfrage und Stellung des Bundespräsidenten),[365] in den USA bei der |68|Interpretation des 2. Zusatzartikels (dem Recht, Waffen zu tragen)[366] und in Großbritannien im Hinblick auf die Reichweite der „Royal Prerogative“ und der beim Monarchen verbliebenen Letztzuständigkeiten.[367]

      b) Reformen von „Oben“

      Reformen durch die politischen Herrschaftsträger können dazu beitragen eine politisch unruhige Situation, eine Unzufriedenheit in der Gesellschaft und damit aufkommende Legitimitätsdefizite zu beheben und den Fortbestand des politischen Systems zu sichern. Im Gegensatz zum stillen Verfassungswandel läuft dieser Prozess aktiv gesteuert ab. Beispiele sind die Preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts[368] oder die Einführung der Sozialversicherungen Ende des 19. Jahrhunderts durch Bismarck. Hintergrund solcher Reformen können eine Eigeninitiative der herrschenden Eliten (so in Preußen), eine Konzession an Protestierende (wie in Südafrika) oder die Mobilisierung bestimmter neuer Bevölkerungsgruppen sein. Um erfolgreich zu sein, müssen diese Reformen rechtzeitig die konkreten Legitimitätsdefizite angehen und beheben. Dazu kann die Einräumung eines Streikrechts ausreichen, möglicherweise sind aber umfangreichere Reformen auch der Grundstrukturen des politischen Systems erforderlich. Entscheidend ist, dass durch die Reformen die faktische Anerkennung der konkreten Herrschaftsordnung als im Wesentlichen sozial gerecht wieder erreicht wird. Patentrezepte lassen sich auch durch die Allgemeine Staatslehre nicht angeben. Fest

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