Handbuch der Soziologie. Группа авторов

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zugleich jedoch auf Distanz zu den Prämissen eines Abbildrealismus gehen: Die Wirklichkeit ist danach aufgrund der Theorie- bzw. Beobachterabhängigkeit wissenschaftlicher Aussagen nicht [57]direkt erkennbar; doch mittels entsprechender methodischer Vorkehrungen lässt sich erreichen, dass sich die Wissenschaften einer wahren Darstellung der Außenwelt sukzessive annähern. Diese Wahrheitsapproximation erfolgt dabei, so Popper und Albert, durch eine Eliminierung des Falschen, d. h. durch eine fortlaufende Falsifikation unwahrer Aussagen. Anders als Albert (1987), der den Begriff des kritischen Realismus favorisiert, spricht Popper (1998: 40) von einem metaphysischen Realismus, da die Realismusannahme nicht empirisch prüfbar ist, seines Erachtens jedoch von wissenschaftlichen Theorien vorausgesetzt wird.

      Es würde eine unzulässige Verkürzung darstellen, wenn in diesem Zusammenhang nicht zugleich, wie angedeutet, auf die seit einigen Jahrzehnten zu beobachtende immense Ausweitung konstruktivistischer Ansätze in der Soziologie bzw. in den Sozialwissenschaften aufmerksam gemacht würde. Eine besondere Beachtung namentlich in der deutschsprachigen Soziologie hat dabei die von Niklas Luhmann formulierte Konzeption einer konstruktivistisch ansetzenden Systemtheorie gefunden. Luhmann beschreibt soziale Gebilde (Interaktionen, Organisationen, Gesellschaften) als autopoietische, operativ geschlossene Systeme, die ihre kommunikativen Elemente, aus denen sie bestehen, in einem rekursiven Prozess selbst herstellen. Das damit angedeutete Theorem der operativen Geschlossenheit wird ergänzt durch die Annahme einer kognitiven Geschlossenheit. Kognition gilt dabei als ein systeminterner Zustand, der mittels Beobachtungen, d. h. Bezeichnungen im Rahmen von Unterscheidungen, produziert bzw. geändert wird. Auch bei Beobachtungen handelt es sich um endogene Operationen, die das System mit eigenen Mitteln bewerkstelligt. Insofern besagt die Annahme einer kognitiven Geschlossenheit, dass es keinen Input von Informationen aus der Umwelt in das System oder einen Output von Informationen aus dem System in die Umwelt des Systems gibt. Informationen stellen in dieser Sicht interne Konstruktionen dar, die soziale Systeme autonom, d. h. im selbstreferenziellen Vor- und Rückgriff auf weitere Informationen erzeugen und verarbeiten. Das Gesagte gilt, so Luhmann, für alle (sozialen) Systeme, gilt also auch für die Wissenschaft als Funktionssystem der modernen Gesellschaft und gilt ebenso für die Soziologie als Subsystem der Wissenschaft. In dieser Sicht stellt sich wissenschaftliches bzw. soziologisches Wissen als ein Wissen dar, dass vom System autonom produziert wird – womit gemeint ist, dass von der Wissenschaft »keine Vorgaben anerkannt werden, die nicht im System selbst erarbeitet sind. Erkenntnisse können daher nur zirkulär begründet werden.« (Luhmann 1990a: 294)

      Luhmanns These einer selbstreferenziellen Konstruktion und damit strikten Selbstproduktion wissenschaftlichen Wissens ist Gegenstand zahlreicher, bis heute andauernder Debatten. Von verschiedenen Seiten ist kritisch dagegen vorgebracht worden, dass die Systemtheorie eine antirealistische Sichtweise vertritt, die keinerlei Einflussnahme der externen Umwelt auf interne Systemprozesse vorsieht. Luhmann selbst hat diesen Antirealismusvorwurf freilich bestritten. »Tatsächlich steht der Realismus des Konstruktivismus auf sicheren Beinen.« (Luhmann 1990b: 9) Zur Erläuterung seiner Auffassung, dass es sich bei dem systemtheoretischen Konstruktivismus um eine Spielart des Realismus handelt, führt er mehrere Überlegungen an; unter anderem verweist er darauf, dass der Theorie zufolge Erkenntnis eine Selbstkonstruktion real operierender Systeme darstellt, ohne dass damit kausale Wechselwirkungen zwischen System und Umwelt oder gar die Wirklichkeit der Außenwelt bestritten würden. »Das heißt nicht, daß die Realität geleugnet würde, denn sonst gäbe es nichts, was operieren, nichts, was beobachten, und nichts was man mit Unterscheidungen greifen könnte. Bestritten wird nur die erkenntnistheoretische Relevanz einer ontologischen Darstellung der Realität.« (Ebd.: 37) Daneben findet sich eine dritte Lesart. Diese begreift Luhmanns Theorie sozialer Systeme (ebenso wie eine Reihe ähnlich ansetzender Varianten eines sozialtheoretischen Konstruktivismus) als eine theoretische Position, die gewissermaßen quer zu dem Schema von Realismus und Antirealismus steht. In dieser Sicht ist mit Sozialkonst-ruktivismus [58]ein Forschungsprogramm gemeint, das sich dafür interessiert, auf welche Weise Wirklichkeitsbeschreibungen soziale Verbindlichkeit erlangen. Behauptet wird zugleich, dass die (ergebnislose) Auseinandersetzung zwischen Realisten und Antirealisten ein ganz anderes (fundamentalistisches) Anliegen betrifft, nämlich die Frage nach einem letzten Einheitsgrund unseres Erkennens und Wissens. Für das sozialkonstruktivistische Theorieprogramm ist diese Fragestellung jedoch, so die Schlussfolgerung, eine Frage ohne praktischen Wert (Kneer 2009).

      Die Kontroverse über Realismus und Konstruktivismus hat in jüngerer Zeit auf dem Feld der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung bzw. der so genannten science studies eine Fortsetzung und zugleich weitere Zuspitzung gefunden. Einen viel beachteten Ansatz stellt die maßgeblich von Bruno Latour formulierte Akteur-Netzwerk-Theorie dar. Latours Theorieunternehmen geht auf deutliche Distanz sowohl zu den Prämissen des (Abbild-)Realismus als auch des (Sozial-)Konstruktivismus. Im Gegensatz zu einem realistischen Selbstverständnis betont Latour, dass (natur-)wissenschaftliche Tatsachen nicht schlicht entdeckt, sondern fabriziert, produziert und damit konstruiert werden – »les faits sont faits« (Latour 2003: 195). An die Adresse der konstruktivistischen Wissenssoziologie richtet er den Vorwurf, dass diese in kurzschlüssiger Weise (natur-)wissenschaftliches Wissen allein im Rekurs auf die interpretative Tätigkeit der Wissenschaftler, also »die harten Fakten der Naturwissenschaft durch die weichen Fakten der Sozialwissenschaft« (ebd.: 187) erklärt und damit den Eigenanteil der Dinge und Gegenstände am Zustandekommen wissenschaftlicher Tatsachen unterschlägt.11 In seiner Sicht ist der Vorgang der Wirklichkeitskonstruktion ein dynamisches Geschehen, an dem naturale, gesellschaftliche und technische Komponenten gleichermaßen beteiligt sind. Um die mitwirkende Rolle von natürlichen und artifiziellen Dingen bei der Herstellung wissenschaftlicher Fakten herauszuarbeiten, nimmt Latour eine Ausweitung der Akteurskategorie vor. Jede wirkmächtige Einheit wird als Akteur begriffen: Menschen aus Fleisch und Blut ebenso wie Mikroben, Schlüsselanhänger, Muscheln oder Fahrbahnschwellen. Akteure handeln in Netzwerken, also dank der Verknüpfung mit weiteren Akteuren; Handlungsfähigkeit ist somit das Resultat einer Netzwerkbildung, bei der die Beteiligten ihre Ziele, Rollen sowie Funktionen aushandeln und wechselseitig zuweisen. Ausgehend hiervon gelangt Latour zu einer Neubeschreibung des Sozialen als Gegenstand der Soziologie: Die soziale Welt gilt ihm als Ort des Versammelns bzw. Assoziierens menschlicher und nichtmenschlicher Entitäten; das Soziale ist, kurz gesagt, bevölkert von eigenartigen Mischwesen, Hybriden aus Natur, Kultur und Technik (vgl. Latour 2007).

      Die vorstehenden Ausführungen haben verschiedene Kontroversen bzw. Positionen zu der Frage vorgestellt, wie sich die Soziologie zu ihrem Gegenstand verhält. Manches konnte dabei nur [59]angedeutet oder allenfalls umrisshaft skizziert, vieles musste schlicht ignoriert werden. Wiederholt wurde dabei die Vielfalt an Sichtweisen und Standpunkten betont. Verschiedene Beobachter haben mit Blick auf diese Mannigfaltigkeit bzw. die scheinbare Uferlosigkeit der Auseinandersetzungen die grundsätzliche Frage nach dem Nutzen einer wissenschaftstheoretischen Reflexion aufgeworfen. In aller Kürze wird man hierzu sagen können, dass »die« Wissenschaftstheorie nicht (länger) das Ziel verfolgt, Wissenschaften zu begründen. Ein ähnlich lautender Eintrag findet sich bereits bei Weber: »Nur durch Aufzeigung und Lösung sachlicher Probleme wurden Wissenschaften begründet und wird ihre Methode fortentwickelt, noch niemals dagegen sind daran rein erkenntnistheoretische oder methodologische Erwägungen entscheidend beteiligt gewesen.« (Weber 1988: 217) Die wissenschaftstheoretische Reflexion geht den Wissenschaften nicht voraus, sondern begleitet sie. Und schon gar nicht liefert sie ein stabiles Fundament, auf dem die fachwissenschaftliche Arbeit ausruhen könnte. Eine der Hauptaufgaben der Wissenschaftstheorie dürfte es vielmehr sein, die Kontingenz wissenschaftlichen Wissens herauszuarbeiten und damit zugleich auf mögliche Alternativen bei der wissenschaftlichen Begriffs-, Theorie- und Methodenwahl aufmerksam zu machen.

      Literatur

      Abel, Theodore (1948): The Operation Called Verstehen. In: The American Journal of Sociology 54 (3): 211–218.

      Albert, Hans (1987): Kritik der reinen Erkenntnislehre. Das Erkenntnisproblem in realistischer Perspektive, Tübingen.

      Bhaskar, Roy (1998): The Possibility of Naturalism. A Philosophical Critique of the Contemporary Human

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