Handbuch der Soziologie. Группа авторов

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meinen; es sind also, anders gesagt, zahlreiche Abstufungen bezüglich des Grads der Autarkie bzw. Autonomie wissenschaftlicher Erkenntnis möglich. Hinzu kommt, dass die Bezeichnung der (wissenschaftlichen) Erkenntnis selbst mehrdeutig ist. Erkenntnis meint zum einen die Einheit der Unterscheidung von Erkenntnis und Gegenstand, zum anderen nur eine der beiden Seiten der Unterscheidung. Aufgrund der erwähnten Punkte (Begriffsvielfalt, Pluralität an Differenzierungsmöglichkeiten, Unklarheit des Erkenntnisbegriffs) sind die vorgenommenen Zurechnungen, welche Position dem Lager des Realismus bzw. dem des Konstruktivismus zugehört, umstritten. Im Weiteren wird deshalb gar nicht erst der Versuch einer eindeutigen Lagerzuordnung unternommen. Wichtiger dürfte es sein, mit Blick auf die genannte Thematik verschiedene Problembezüge und Betrachtungsweisen vorzustellen.

      Das Thema der Beobachterabhängigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis wird bereits in der Gründungsphase der akademischen Soziologie intensiv diskutiert. Terminologisch gilt es zu beachten, dass bei den soziologischen Klassikern von Konstruktivismus so gut wie überhaupt nicht, von Realismus nur selten explizit die Rede ist. Ausgehend von einer weiten Begriffsfassung, die den gegenwärtigen Konstruktivismus als Fortführung einer vieljährigen, spätestens mit Kant einsetzenden Denktradition begreift, wird man jedoch auch bei den soziologischen Gründungsvätern auf eine Vielzahl von Überlegungen stoßen, die eine konstruktivistische Ausrichtung aufweisen. Erneut gilt es vor allem an Weber zu erinnern, der sich in seinen Beiträgen zur Wissenschaftslehre, wie angedeutet, zustimmend auf die neukantianische Philosophie von Rickert beruft. Insbesondere übernimmt Weber von Rickert die Auffassung, dass der Gegenstand, auf den sich die sozial- bzw. kulturwissenschaftliche Untersuchung bezieht, gewissermaßen vom wissenschaftlichen Beobachter hervorgebracht, d. h. (mit-)konstituiert wird. Als Ausgangspunkt fungiert dabei [55]die Überlegung, dass die wissenschaftliche Erkenntnis nicht die unendliche Wirklichkeit – Rickert und Weber sprechen mit Blick auf die Unendlichkeit des Weltgeschehens von einer extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit, die sich als solche nicht getreu abbilden und damit erkennen lässt –, sondern stets nur Ausschnitte dieser Wirklichkeit thematisieren kann. »Es gibt keine schlechthin ›objektive‹ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder […] der ›sozialen Erscheinungen unabhängig von speziellen und ›einseitigen‹ Gesichtspunkten, nach denen sie […] als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden.« (Weber 1988: 170) Als Auswahlgesichtspunkte fungieren in den Kulturwissenschaften Wertideen, die Ausschnitte der unendlichen Wirklichkeit als bedeutsam und damit als wissenswert erscheinen lassen. Nur dadurch, dass ›wir‹ wertend an die Wirklichkeit herantreten, lassen sich Teile des unendlichen – und zunächst einmal: sinnlosen – Weltgeschehens aussondern und zum Gegenstand des kulturwissenschaftlichen Erkennens machen. Ausgehend hiervor spricht Weber von einer »ewige[n] Jugendlichkeit« (ebd.: 206) der Sozial- und Kulturwissenschaften: Mit dem Wandel der Kultur ändern sich auch ›unsere‹ (Forschungs-)Interessen und damit die spezifischen Gesichtspunkte, von denen aus wir die Wirklichkeit betrachten.

      Webers konzeptuelle Anleihen, die er beim Neukantianismus vornimmt, erinnern in bestimmter Hinsicht an Überlegungen, für die sich konstruktivistische Ansätze stark machen. Insbesondere ist richtig, dass sich Weber gegen einen einfachen Abbildrealismus ausspricht. Doch geht Weber generell auf Distanz zur Position des Realismus? Einmal abgesehen davon, dass sich Weber hierzu nicht geäußert hat (und ihm die Frage vermutlich äußerst merkwürdig vorgekommen wäre), gilt es an das zuvor Gesagte zu erinnern. Die Antworten dürften unterschiedlich ausfallen – je nachdem, welche Fassung des Realismusbegriffs gewählt wird. Jedenfalls können auch diejenigen, die in Weber einen Verfechter des Realismus sehen, eine Vielzahl von Belegen anführen. Für diese Realismus-These spricht u. a., dass bei Weber, genau genommen, nicht von einer Konstruktion und damit Hervorbringung, sondern einer Auswahl des Erkenntnisgegenstands die Rede ist,9 dass Weber, im Gegensatz zu (emanatistischen) Identitätstheorien, die Kluft zwischen Begriff und Wirklichkeit nicht einzieht oder dass Weber einen nicht-relativistischen Wahrheitsbegriff vertritt: Subjektive Wertideen bestimmen zwar, was Gegenstand der kulturwissenschaftlichen Untersuchung wird, sie haben, so Weber, jedoch keinen Einfluss auf die Gültigkeit der Untersuchungsergebnisse.10 »Denn wissenschaftliche Wahrheit ist nur, was für alle gelten will, die Wahrheit wollen.« (Weber 1988: 184)

      Émile Durkheim nimmt eine deutlich abweichende Position hinsichtlich der genannten Thematik ein. In seiner Schrift zu den Regeln der soziologischen Methode betont er, dass der sozialen Wirklichkeit eine eigenständige Form der »Objektivität« (Durkheim 1984: 126) zukommt und auch »objektiv untersucht« (ebd.: 91) werden kann. Relevant im hier interessierenden Kontext ist [56]vor allem, dass Durkheim den sozialen Tatbeständen, die den Gegenstandsbereich der Soziologie bilden, neben den Eigenschaften der Äußerlichkeit, Allgemeinheit und Zwanghaftigkeit auch das Merkmal der Unabhängigkeit zuspricht. Unabhängig sind soziale Phänomene für ihn zunächst insofern, als sie nicht im Verhalten bzw. Handeln einzelner Individuen aufgehen, sondern eine eigenständige Realitätsebene bilden, d. h. eine Realität sui generis. Independent sind soziale Phänomene für ihn aber auch insofern, als sie, vergleichbar mit Dingen, unabhängig vom wissenschaftlichen Blick existieren. Durkheim zeigt sich überzeugt davon, dass sich die sozialen Phänomene, so wie sie wirklich sind, wissenschaftlich analysieren und erklären lassen. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass die Soziologie sämtliche alltagsweltlichen Vormeinungen und Vorbegriffe, die sich gleichsam wie ein Schleier zwischen uns und die sozialen Phänomene schieben, systematisch ausschaltet; hiervon ausgehend muss die Soziologie die Dinge, die sie thematisiert, gewissermaßen objektiv definieren, d. h. »nicht nach einer bestimmten Auffassung, sondern nach den ihnen innewohnenden Eigenschaften« (ebd.: 131). Deutlich distanziert sich Durkheim von einer instrumentalistischen Auffassung, der zufolge wissenschaftliche Begriffe nicht unabhängige Gegenstände referieren, sondern mehr oder weniger nützliche Denkwerkzeuge darstellen. Die Soziologie, so heißt es bei ihm, »benötigt Begriffe, die die Dinge adäquat zum Ausdruck bringen, so wie sie sind, und nicht so, wie sie für die Praxis nützlich wären« (ebd.: 138).

      Ausgehend von diesen Äußerungen haben verschiedene Interpreten die Schlussfolgerung gezogen, dass Durkheim die Position eines soziologischen Realismus vertritt, gelegentlich wird er stärker noch mit einer abbildrealistischen Auffassung in Verbindung gebracht. Deshalb gilt es darauf hinzuweisen, dass sich bei Durkheim auch abweichende Äußerungen finden lassen, in denen er stärker den konstruktiven Eigenanteil des Erkennens betont; überhaupt gilt zu beachten, dass er sich, was hier allerdings nur angedeutet werden kann, vielfach zustimmend auf die Philosophie von Kant bezieht. Zudem können auch die zuvor referierten Äußerungen Durkheims, jedenfalls zum Teil, mehr oder weniger konstruktivistisch – sprich: instrumentalistisch – reinterpretiert werden. Danach gibt der französische Soziologe, wenn er etwa von der Dinghaftigkeit sozialer Phänomene spricht, keine Auskunft über deren ontologischen Status, sondern formuliert lediglich die methodische Regel, dass sich soziale Tatbestände wie unabhängige Dinge behandeln lassen (was eben nicht besagt, dass sie auch derartige Dinge sind). Diejenigen, die Durkheim dann doch dem realistischen Theorielager zuordnen, können sich freilich auf die Beobachtung stützen, dass er in gewisser Weise Überlegungen vorwegnimmt, die in späteren Debatten von expliziten Befürwortern des Realismus formuliert werden. Zu nennen wäre etwa Roy Bhaskars (1998) Version eines kritischen Realismus, bei der zwischen verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen unterschieden wird. Sozialwissenschaftliche Theorien, die aktuelle Ereignisse erklären, sind gut beraten, so Bhaskar, neben empirischen Regelmäßigkeiten auch tiefer liegende Mechanismen und Strukturen zu berücksichtigen, die ebenso ›wirklich‹ sind wie die direkt messbaren Erscheinungen an der Oberfläche. In anderen Kontexten ist auch von einem wissenschaftlichen Realismus die Rede: ›Theoretischen Entitäten‹, die zwar nicht unmittelbar beobachtet werden können, deren Existenz jedoch theoretisch erschlossen werden kann, kommt demzufolge ebenso wie direkt wahrnehmbaren Einheiten der Status beobachtungsunabhängiger Dinge zu.

      Der zuvor kurz erwähnte Begriff des kritischen Realismus wird noch in anderen Kontexten verwendet. Gelegentlich zieht man den Begriff auch heran, um die – von Bhaskars Auffassung deutlich abweichende – Realismusposition des kritischen Rationalismus von Karl Popper und Hans Albert zu bezeichnen. Von einer kritischen Variante des Realismus ist deshalb die

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