Ökologie der Wirbeltiere. Werner Suter
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Der Verdauungsapparat (digestive system, feeding apparatus) der meisten Wirbeltiere ist eine komplexe Abfolge von (teilweise gewundenen) engen Schläuchen und weiten Kammern und kann ein Mehrfaches der Körperlänge des Tieres messen. Je schwieriger es ist, die Nährstoffe aus der Nahrung zu extrahieren, desto komplexer ist der Verdauungsapparat aufgebaut. Von den Carnivoren (einfache Trakte) über die Omnivoren zu den Herbivoren (komplizierte Trakte) besteht ein Kontinuum von vorwiegend selbstständiger, enzymatischer Verdauung zu vorwiegend unselbstständiger Verdauung mithilfe symbiotischer Mikroorganismen, die den Nahrungsbrei in Gärkammern fermentieren. Grundsätzlich aber lassen sich im Verdauungsapparat vier Segmente zwischen Mund und After erkennen (Abb. 2.15): Mundhöhle und Pharynx (headgut), Vormagen, bestehend aus Speiseröhre und Magen (foregut), Dünndarm (midgut) und Dickdarm mit Blinddarm (hindgut).
Bereits die Mundregion lässt aufgrund ihrer morphologischen Differenzierung Rückschlüsse auf die Ernährung zu. Vögel besitzen keine echten Zähne und haben damit im Gegensatz zu Säugetieren keine effiziente Möglichkeit, die Nahrung schon im Mundbereich zu zerkleinern. Der Eulenpapagei (Strigops habroptilus) ist diesbezüglich eine Ausnahme; er vermag mit seiner Zunge Pflanzenmaterial zu zerreiben, um nur den Saft aufzunehmen (Kirk et al. 1993). Im Gegensatz zur Schädelform ist bei den Vögeln der Hornschnabel in Anpassung an die Art der Nahrung und ihre Beschaffung über die höheren taxonomischen Gruppen sehr vielfältig differenziert. Aber auch innerhalb einzelner Familien gibt es Beispiele spektakulärer adaptiver Radiation, die eine große Diversität der Schnabelformen (und weiterer, mit der Nahrungssuche zusammenhängender anatomischer Merkmale) hervorgebracht hat. Bekannte Lehrbuchbeispiele sind die Kleidervögel Hawaiis (Pratt 2005) oder die Grundfinken (Geospiza) der Galapagosinseln (Kap. 8.6), aber auch die Vangawürger Madagaskars gehören dazu (Abb. 2.16).
Abb. 2.15 Fünf Grundmodelle des Verdauungsapparats von Wirbeltieren; angegeben ist der Ort der mechanischen Zerkleinerung der Nahrung, der Säuresekretion zur enzymatischen Verdauung sowie der mikrobiellen Fermentation. a: Vögel, b: Carnivoren und Omnivoren, c: Dickdarmfermentierer, d: Vormagenfermentierer ohne Wiederkäuen, e: wiederkäuende Vormagenfermentierer (Abbildung neu gezeichnet nach Barboza et al. 2009).
Die mechanische Bearbeitung der Beute findet bei Vögeln erst im Magen statt. Die Beutegröße ist damit für die meisten Vögel durch ihr Schluckvermögen beschränkt. Greifvögel und andere Arten mit ähnlichem Schnabelbau können jedoch von größerer Beute mundgerechte Stücke wegreißen, und viele Samenfresser vermögen Samenschalen mit dem Schnabel zu knacken. Einige Vögel haben zudem spezielle Verhaltensweisen entwickelt, um an den weichen Inhalt hartschaliger Beute zu gelangen, ohne die unverdaulichen Teile hinunterschlucken zu müssen (Kap. 3.3). In der Regel wird aber auch Nahrung mit harter Schale ganz geschluckt. Eine Besonderheit der meisten Vögel ist die Erweiterung der Speiseröhre (Oesophagus) in einen Kropf (crop), welcher der Speicherung von Nahrung dient, zum Beispiel, wenn diese später den Nestlingen gefüttert werden soll. Die Verdauung setzt aber erst im Magen ein und findet bei carnivoren Arten weitgehend ohne mechanische Unterstützung statt. Die aasfressenden Geier müssen dabei jedoch mit starken Pathogenen zurechtkommen. Bei ihnen hat sich deshalb eine spezielle Gemeinschaft von Darmmikroben entwickelt, die von Bakterien dominiert wird, die für andere Vögel hoch toxische Wirkung haben (Roggenbuck et al. 2014). Zudem weist die genetische Ausstattung von Geiern auf Anpassungen im Immunsystem und bei der Produktion von Verdauungssekreten an die spezielle Ernährungsweise hin (Chung et al. 2015).
Samenfressende Vögel (Finken und andere Singvögel, Hühnervögel) oder pflanzen- und molluskenfressende Wasservögel haben aus dem unteren, muskelbesetzten Magenteil (Ventriculus) hingegen massive Kau- oder Muskelmägen (gizzard) entwickelt, in denen die mechanische Verarbeitung oft mit eigens aufgenommenen Magensteinchen (Gastrolithen) verstärkt wird. Zugleich findet Behandlung mit der Magensäure aus dem Proventriculus statt (Abb. 2.15a). Vögel mit saisonal unterschiedlich harter Nahrung können mit periodischem Abbau und Aufbau der Muskelmagenmasse reagieren. Beispiele solcher phänotypischer Flexibilität sind die Bartmeise (Panurus biarmicus), die zwischen Samen- und Insektennahrung wechselt, Hühnervögel in Reaktion auf unterschiedlichen Fasergehalt oder viele Watvögel, die sich zeitweise an hartschalige Molluskennahrung anpassen müssen (Piersma & Drent 2003; Vézina et al. 2010; Piersma & van Gils 2011). Massenänderungen des Verdauungstrakts laufen oft sehr schnell ab (Starck 1999), was sich Vögel bei größeren Zugleistungen zunutze machen können (Kap. 2.7). Nach ähnlichem Prinzip wie bei den Vögeln konstruierte Kaumägen kommen auch bei gewissen Fischen vor. Massenänderungen des Magens sind auch bei Schlangen mit seltenen, aber großen Mahlzeiten nachgewiesen (Ott & Secor 2007).
Abb. 2.16 Anpassungen in den Schnabelformen von drei Vangawürgern an unterschiedlichen Nahrungserwerb. Links ein Kleibervanga (Hypositta corallirostris), der ähnlich den Kleibern (Sittidae) an den Stämmen aufwärts klettert und Insekten aus Ritzen herauspickt. Der Sichelvanga (Falculea palliata; Mitte) benutzt seinen sichelförmigen Schnabel, um in tieferen Stammlöchern und unter der Rinde nach Insekten zu sondieren. Der Haken-vanga (Vanga curvirostris, rechts) besitzt ähnlich den echten Würgern einen kräftigen Hakenschnabel, mit dem er auch kleinere Wirbeltiere erbeuten kann. Man nimmt an, dass der Vorfahre der heutigen Vangawürger vor knapp 29 Mio. Jahren von Afrika nach Madagaskar eingewandert ist und die Radiation vor gut 24 Mio. Jahren einsetzte (Fuchs et al. 2006).
Säugetiere besitzen Zähne und verfügen damit meistens nicht nur über einen Fang-, sondern auch über einen Kauapparat; nur wenige Gruppen sind sekundär zahnlos geworden (Bartenwale, Kloakentiere und Ameisenbären; Abb. 2.14). Viel stärker als bei den Vögeln haben sich bei den Säugetieren deshalb mit der Bezahnung auch die Schädelformen differenziert. Chemische Unterstützung des Kauens setzt bei Säugetieren bereits in der Mundregion ein, da im Speichel Verdauungsenzyme enthalten sind. Dennoch findet der Großteil der Nahrungsverarbeitung auch bei ihnen im Magenbereich und im Dickdarm statt.
Wie bereits erwähnt, stellt die Verdauung an Carnivore und Omnivore (zum Beispiel Mensch, Schwein) geringere Anforderungen als an Herbivore. Ihr Magen ist generell einfach gebaut und der Dünndarm relativ kurz (Abb. 2.15b). Fermentierung findet erst im Dickdarm statt und ist bei dessen geringer Größe auch relativ unbedeutend. Omnivore mit höherem Anteil pflanzlicher Nahrung, vor allem solche mit saisonaler Herbivorie, verfügen allerdings über stärker entwickelte Dickdärme mit ähnlicher Funktionsweise wie herbivore Dickdarmfermentierer (Hume 2006; s. unten). Grundsätzlich nehmen aber verdauungsphysiologische Anforderungen bei Carnivoren weniger Einfluss auf die Ökologie des Nahrungserwerbs als bei Herbivoren. Für Carnivore liegen die ökologischen Herausforderungen stattdessen beim Erwerb genügender Nahrungsmengen – Aspekte, die vor allem in Kapitel 3 zur Sprache kommen. Deshalb fokussiert der Rest dieses Kapitels auf herbivore Säugetiere mit faserreicher Nahrung.
Verdauungssysteme der Herbivoren
Die speziellen Bedingungen, denen sich Herbivore bei der Ernährung zu stellen haben, sind bereits an mehreren Stellen zur Sprache gekommen. Dazu gehören:
• Pflanzennahrung (abgesehen von Samen, Früchten und Ähnlichem) ist zwar eine häufige Ressource, denn etwa 50 % des organischen Kohlenstoffs der Erde ist in Zellulose gebunden. Diese ist aber nicht einfach zu verdauen, und die Energieausbeute pro Einheit an grüner Pflanzenmasse ist damit gering.
• Die Qualität der Pflanzennahrung kann im Laufe einer Vegetationsperiode sehr stark schwanken. Meist nimmt der Proteingehalt der Pflanzen nach dem Austrieb schnell und erheblich ab; gegen Ende