Der Wolfsmann. Hans-Peter Vogt
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Dort, wo Alf steht, ist die Wiese sehr nass, und er läuft ein paar Schritte, um eine trockene Stelle zu finden. Dabei sieht er, dass es hier niedere Büsche gibt. Sie haben kleine Blätter und blaue Beeren. Als er sich bückt, sieht er, dass hier Walderdbeeren wachsen. So genau kennt er die allerdings nicht. Er kennt Erdbeeren, aber die hier sind wirklich sehr klein.
Alf probiert von den Erdbeeren und den blauen Früchten, und findet, dass sie sehr gut schmecken.
Er hatte in den letzten Tagen wenig gegessen und der Hunger rührt sich urplötzlich.
Von den blauen Beeren wachsen hier genug. Mehr als er essen kann.
Während er isst, verfärben sich seine Hände und der Mund. Alles ist jetzt blaulila von den Heidelbeeren. Alf sieht auf seine Hände. Er leckt daran. Es schmeckt süß und es macht Alf irgendwie glücklich.
Er versteht das alles nicht und es ist auch nicht zu verstehen, nicht nur für einen Dreijährigen.
Schließlich streckt sich Alf und sieht sich um.
Er hat einen kleinen kugelrunden Bauch bekommen, von den Beeren, und fühlt sich satt, zufrieden und etwas müde. Es gibt hier eine Art Lichtung, wie ein Plateau. Um diese Lichtung herum stehen diese seltsamen großen Steine und auch Holzsteelen, die in Kreisform aufgestellt sind, und die jetzt Schatten werfen. Das Tal hat auf drei Seiten hohe Wände aus Stein, die in wilden Zacken immer höher hinaufreichen. Auf der vierten Seite ist das Tiefblau des Himmels zu sehen, und jetzt nahm Alf zum ersten Mal diesen Duft wahr, der hier über der Lichtung liegt. Ein süßer und würziger Duft von Moosen, Waldboden und Beeren.
An den Hängen stehen vereinzelt hohe Tannen und sie reichen auch noch weiter hinauf. Sie klammern sich ans Gestein und sie haben seltsam geformte Wurzeln.
Alf sieht das alles, aber mit seinen drei Jahren nimmt er das noch nicht bewusst auf. Er hat keine Ahnung, wo er ist. Seine Mutter ist offenbar weit weg, und diese Landschaft ist entschieden besser als der Kerker, in dem er die letzten vierzehn Tage verbracht hatte.
Er sucht sich ein trockenes Plätzchen, legt sich in das Moos und schläft nach wenigen Minuten ein.
1.14.
Elvira, die in Berlin zurückgeblieben war, die war traurig über den Verlust. Sie weiß einerseits, dass Alf tot ist, und gleichzeitig hat sie das Gefühl, dass sie Alf eines Tages wiedersehen wird. Sie spricht mit Chénoa und ihrer Cousine Solveig, und Solveig nickt vorsichtig. Sie hat in diesen Dingen ein untrügliches Gespür.
„Du wirst ihn wiedersehen“, sagt sie mit Bestimmtheit. „Nicht morgen, nicht in fünf Jahren. Vielleicht musst du zwanzig oder dreißig Jahre warten, aber ich weiß das mit Bestimmtheit. Alf wird zurückkehren in unsere Welt. Glaub’ mir.“
Für die Polizei gilt Alf als vermisst. Sie setzen ihn auf eine Liste. Es gibt nicht einmal eine Beerdigung.
Elvira spricht mit ihren Kindern und auch mit Lara und ihren Kindern. Lara umarmt sie, und sie sieht die Kinder der Reihe nach an.
„Ich habe gelernt, auf die Kräfte der Familie zu vertrauen. Ich habe nicht die Kräfte von Solveig, aber auch ich spüre, dass Alf eines Tages zurückkommen wird. Lasst uns das immer wieder besprechen. Auch auf den Treffen der Kinder muss das einen neuen Stellenwert erhalten.
Vielleicht gelingt es uns eines Tages, den Kontakt zu Verschollenen herzustellen.“
Lilly ist so traurig, dass sie jetzt zu ihrer großen Schwester ins Zimmer zieht. „Ich kann das einfach nicht, so alleine neben dem leeren Bett von Alf liegen. Ich muss immer daran denken, wenn wir uns morgens geneckt haben, bevor Mama und Papa aufgestanden sind.“
1.15.
Alf, Elvira und Solveig wissen nicht, dass Artemis seine schützende Hand über Alf gehalten hat. Sie wissen nicht, dass Artemis schon vor vielen Jahren gelernt hat, in die Vergangenheit zu reisen. Sie wissen nicht, dass Artemis mit Alf etwas Großes vor hat, und dass er deswegen nicht in das Geschehen eingegriffen hat, solange Alf noch gefangen gehalten worden war.
Sie wissen viel, aber Vieles wissen sie nicht.
Alf, der ein kleiner unschuldiger Junge von drei Jahren ist, hat eine große Zukunft vor sich, und er wird durch eine harte Schule gehen, um später einmal seine zukünftigen Aufgaben für die Familie zu erfüllen.
Artemis muss immerhin zugeben, dass seine Entscheidung eine Art Experiment ist. Er weiß auch nicht, wie die menschliche Physis und die Psyche auf einen Zeitsprung von über 1000 Jahren reagiert. Er selbst war schon ein paar Mal in der Vergangenheit. Es war immer sehr aufschlussreich gewesen. Man kann aus der Vergangenheit oder auch aus der Zukunft weit besser lernen, wenn man selbst daran teilgenommen hat.
Kapitel 2. In einem fremden Land
2.1.
Alf wacht auf, weil er ein Schnauben, Schmatzen und Röcheln hört. Er schlägt die Augen auf und sieht in einiger Entfernung ein großes dunkles Tier mit dichtem Fell. Das Tier hat ein Junges neben sich, das manchmal hüpft und kleine Sprünge macht.
Das große Tier hat seine Schnauze tief in die Büsche gesteckt und es frisst offenbar von diesen Beeren.
Der Wind steht günstig. Alf liegt hinter Büschen verdeckt, und so hat dieses große Tier Alf noch nicht bemerkt.
Alf hört sich das eine Weile an, dann spinnt sich wie selbstverständlich ein Feld aus Licht um ihn. Das kennt Alf auch noch nicht. Er staunt, und plötzlich beginnt er zu summen und zu brummen. Er kann nicht einmal etwas dazu.
Die Bärin richtet sich abrupt auf. Sie sieht jetzt diesen Schein. Sie sieht dort dieses Bündel. Sie kennt Menschen, und sie muss sich vor diesen Menschen in Acht nehmen. Das hatte sie gelernt.
Aber dieses Wesen brummt in einer ihr vertrauten Art, und dann beginnt dieses Etwas zu fiepsen, so dass sie die Ohren spitzt. Das sind die kläglichen Geräusche, die sie von ihrem Jungen kennt, wenn es Hunger hat.
Sie drückt ihr eigenes Kind hinter ihren Rücken, dort, wo es Schutz findet, und beginnt sich schnell auf dieses Bündel zuzubewegen.
Der Schein wird heller. Die Bärin erschrickt, doch dieses Bündel winselt und jault, und die Bärin geht vorsichtig näher.
Ihr eigenes Kind folgt ihr, und es beginnt jetzt auch zu winseln und zu brummen.
Die Bärin richtet ihre große Nase in die Luft und nimmt die Losung auf. Da ist nur dieses Kind. Es riecht süß nach Beeren und nach Pipi, und da ist kein anderer Geruch. Nicht der scharfe Schweiß, den die Menschen sonst verströmen.
Sie bewegt sich hin und her und steckt ihre Nase in die Luft. Dann geht sie zu diesem Bündel, das jetzt aufsteht.
Es ist ein Menschenjunges. Für Bären ist das ein gefundenes Fressen, aber dieses Junge macht seltsam vertraute Geräusche. Sie riecht an diesem Kind. Es langt ihr jetzt ohne Furcht in den Pelz und es wimmert, wie Bärenjunge wimmern.
Die Bärin ruft