Schulverweigerung als Entwicklungschance?. Johanna Kiniger

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Schulverweigerung als Entwicklungschance? - Johanna Kiniger Verlag für systemische Forschung

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des Max-Planck-Instituts Freiburg vom Jahr 1999. Das Ergebnis der empirischen Analysen ergab, im Hinblick auf die Kontrolltheorie, dass Schulverweigerung durch einen defizitären elterlichen Erziehungsstil, geringe elterliche Supervision und schwache Internalisierung von Werten verstärkt wird (vgl. Wagner/ Dunkake/Weiß 2004, S. 460 ff.).

       3.3.2 Anomietheorie

      Die Anomietheorie geht von der Annahme aus, dass Anomie entsteht, wenn zwischen den gesellschaftlichen Regelungen und den individuellen Bedürfnissen ein Ungleichgewicht herrscht (vgl. Merton 1968, S. 216).

      Die These Mertons kann auf die Schulverweigerung transferiert werden. Durch das Auseinanderklaffen von angestrebten individuellen Zielen und gegebenen gesellschaftlichen Strukturen reagieren Individuen mit verschiedenen Anpassungsformen. Diese Anpassungsformen sind die Konformität, die Innovation, der Ritualismus, die Rebellion oder der soziale Rückzug (vgl. Dunkake/Wagner/Weiss et al. 2015, S. 26 f.)

      • Konformität (gute Schüler*innen): Gute Schüler*innen sind konform. Sie haben die nötigen Mittel um ihr Ziel (Schulerfolg) zu erreichen (vgl. Dunkake/Wagner/Weiss et al. 2015, S. 27).

      • Innovation (aktive Schulverweigerer*innen): Aktive Schulverweigerer*innen streben Bildungserfolg an, aber es fehlen ihnen die legitimen Mittel. Sie bemühen sich darum, andere Wege zu finden, um den Bildungserfolg zu erreichen (z. B. zeitintensiver Nebenjob). Die Schulverweigerung ist ein Nebenprodukt der Diskrepanz zwischen Mittel und Ziel (vgl. Dunkake/Wagner/Weiss et al. 2015, S. 27).

      • Ritualismus (passive Schulverweigerer*innen): Passive Schulverweigerer*innen erkennen den Zweck eines Schulbesuchs nicht. Sie gehen aus Gewohnheit zur Schule (vgl. Dunkake/Wagner/Weiss et al. 2015, S. 27). Oft werden passive Schulverweigerer*innen zu aktiven Schulverweigerer*innen (vgl. Schreiber-Kittl/Schöpfer 2002, S. 82).

      • Rebellion (Schulverweigerer*in aus Protest). Die Schulverweigerung gilt als Protest gegenüber den Mitteln oder Zielen der Schule. Die Rebellen suchen nach alternativen Mitteln und Zielen. Schulverweigerung ist der Ausdruck von Unzufriedenheit (vgl. Dunkake/Wagner/Weiss et al. 2015, S. 27).

      • Sozialer Rückzug (totale Schulverweigerer*in): Für Merton ist totale Schulverweigerung durch sozialen Rückzug gekennzeichnet. Die totale Schulverweigerer*in befindet sich in einem Zustand der Lethargie. Es werden keine Alternativen gesucht und der soziale Rückzug kann mit Frustrationserlebnissen einhergehen (vgl. Dunkake/Wagner et al. 2015, S. 27).

       3.3.3 Subjektive Theorie

      Die Subjektive Theorie rekonstruiert die Innenansichten von Menschen und geht von der Annahme aus, dass die Befragten auch zur Erkenntnis fähig sind, nicht nur die Forschenden. In der ersten Phase finden Interviews statt, wobei die Befragten als Experte*innen fungieren. Dann folgt die Transkription der verbalisierten Inhalte. In der zweiten Phase werden die Inhalte zusammengefasst und miteinander logisch in Verbindung gebracht. Von der forschenden Person wird im gesamten Forschungsverlauf absolute Neutralität verlangt. Die Subjektive Theorie ist für Dunkake eine innovative Methode, mit dem Ziel strukturelle Abfolgen aus der Sicht der Befragten zu erheben. Sie eignet sich, ihrer Meinung nach, insbesondere zu Abbildung von Prozessen, verlangt aber von der forschenden sowie der befragten Person ein hohes Abstraktionsvermögen und hohe kognitive Kompetenzen (vgl. Dunkake 2017, S. 132 ff.).

      Schulverweigerer*innen zeigen teilweise recht komplexe Argumentationsstrukturen, um das Fernbleiben von der Schule zu erklären (vgl. Oehme 2007). Der Einsatz dieser Methode könnte weitreichende Erkenntnisse liefern, „[…] die zu einer wichtigen Differenzierung dieses Forschungsfelder beitragen und die Vielfalt mit ihren Strukturen besser beleuchten können“ (Dunkake 2017, S. 137).

       3.3.4 Systemtheorie

      In der Systemtheorie wird Schulverweigerung als „Ausdruck zirkulärer Interaktionsstrukturen verschiedener sozialer und personaler autopoietischer Systeme gedeutet“ (Bührmann 2017, S. 167).

      Bührmann führte 2009 qualitative Studien mit über 40 Schulverweigerer*innen und 30 Pädagogen durch, um das Phänomen empirisch zu erfassen (vgl. Bührmann 2009). Die Studien ergaben, dass die Problemkonstruktion Schulverweigerung abhängig ist vom Weltbild des Beobachters. Schulverweigerung ist Ausdruck zirkulärer Interaktionsstrukturen und Abbild des Zusammenwirkens von Elementen im autopoietischen System (vgl. Bührmann/Boehmer 2016, S. 172 ff.).

      Es gibt kein „Patentrezept“ gegen Schulverweigerung. Lösungen sind nur bedingt vorhersagbar und planbar. Prozesse laufen zirkulär ab, Diagnosen und Interventionen sind Teil einer kontinuierlichen Schleife. Die „systemische Schleife“ ist ein Prozessmodell, das auf Königswieser und Exner (2002) zurückgeht und die systemische Haltung veranschaulicht (vgl. Königswieser/Exner 2002, S. 24).

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      Abb. 2: Prozessmodell „systemische Schleife“ (nach Königswieser/Exner 2002, S. 24)

      Die Ursachen für Schulverweigerung können vielfältig sein. Die Türöffner sind konkrete Auslöser oder besondere Situationen. Sie öffnen in der zirkulären Schleife die Tür für neue Entwicklungen und Veränderungen. Sie laden zur Entscheidungsfindung und zu aktivem Handeln ein. Türöffner lösen Suchprozesse und Dynamiken aus. Das alte Muster, das zirkuläre Wirkungs- und Beziehungsgeflecht sowie die Kreisdynamik werden durch Türöffner durchbrochen und kreative und individuelle Lösungsfindungsprozesse initiiert (vgl. MACK 2016, S. 1 ff.).

      Dysfunktionale Strukturen sind Teil einer Entwicklung (vgl. Bührmann 2017, S. 167 ff.). Wenn sich Lösungsversuche zu erstarrten Handlungsroutinen verfestigen, werden sie zu Lösungen erster Ordnung (vgl. Watzlawick/Weakland/Fisch 2013, S. 59 ff.) und zugleich Teil des Problems. Es entwickelt sich eine Dysfunktionalität. In dieser Wirkungsschleife bedarf es einer Verstörung (Perturbation), um Veränderungen auszulösen. Schulverweigerung kann als Störung auf diesen Gleichgewichtszustand eines Systems wirken und erforderliche Veränderungen und Prozesse auslösen, um einen neuen Gleichgewichtszustand herzustellen und neue Entwicklungs- und Veränderungsräume zu schaffen (vgl. Bührmann 2017, S. 167 ff.).

       3.4 SCHULTHEORETISCHE ASPEKTE UND SCHULVERWEIGERUNG

      Die Schultheorie beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Ausformungen und Fundamenten des schulischen Handelns (vgl. Winkel 1997, S. 22 ff.). Die Schule hat u. a. den gesellschaftlichen Auftrag Kenntnisse und kulturelle Werte zu vermitteln, gleichzeitig aber auch als pädagogische Einrichtung zu fungieren (vgl. Ricking/Dunkake 2017, S. 25 f.). Die schultheoretischen Ansätze befassen sich auch mit den strukturellen Problemen des Schulsystems. Der Entwicklungsstand und die Erfahrungs- bzw. Lebenswelten der Schüler*innen sind sehr unterschiedlich.

      Durch Überforderungssituationen, Informations- und Reizüberflutung reagiert das Gehirn durch Distanz und Ausblenden von Dingen. Die Personen stehen „neben sich“. Dieses Phänomen nennt sich Dissoziation. Schüler*innen und Lehrpersonen treten in solchen Situationen emotional aus dem schulischen Geschehen heraus, um sich zu schützen und einen Überblick zurückzugewinnen. In diesem Trancezustand können auch die Ressourcen und Kompetenzen vorübergehend verschwinden (vgl. Herrmann, 2018, S. 120).

      Ein strukturelles Grundproblem der Schule scheint zudem die fehlende oder geringe Passung zwischen den Erwartungen und Bedingungen des Schulsystems

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