Schulverweigerung als Entwicklungschance?. Johanna Kiniger

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Schulverweigerung als Entwicklungschance? - Johanna Kiniger страница 7

Schulverweigerung als Entwicklungschance? - Johanna Kiniger Verlag für systemische Forschung

Скачать книгу

Die Trennschärfe ist jedoch nicht immer gegeben.“

      (Beinke et al. 2008, S. 91)

      In der Forschung und Fachliteratur existieren unterschiedliche Bezeichnungen für das Phänomen Schulverweigerung. Die Differenzierung ist unscharf (vgl. Weckel 2017, S. 51).

      Thimm und Ricking betonen beispielsweise, dass es vor allem bei der Verwendung und Abgrenzung der Begriffe Schulverweigerung, Schulschwänzen, Schulabwesenheit, unregelmäßiger Schulbesuch, Schulverdrossenheit, Schulphobie, oder schuldistanziertes Verhalten keine konsensfähige Begriffsverwendung und sehr große Uneinigkeiten gibt.

      Für Ricking umfasst der Oberbegriff Schulabsentismus alle Verhaltensweisen und -muster, bei denen die Schüler*innen zur Unterrichtszeit in alternativen Räumen aufhalten (vgl. Ricking 2014, S. 8).

      Schulverweigerung ist für ihn eine Erscheinungsform des Schulabsentismus. Die Klassifikation in unterschiedliche Erscheinungsformen basiert auf den ursächlichen Faktoren (Ricking/Albers 2019, S. 11).

      Rickings Definitionen können sich nicht durchsetzen können, weil die Begrifflichkeiten im allgemeinen Sprachgebrauch nach wie vor als Synonyme gebraucht werden und nicht im hierarchischen Verhältnis gesehen werden (vgl. Fahrenholz 2015, S. 10).

image

      Abb. 1: Unterschiede zwischen schulaversiven Verhaltensweisen und Schulversäumnissen (nach Ricking 2014, S. 38)

      Für Seeliger ist Schulverweigerung ebenso wie für Ricking eine Unterkategorie des Schulabsentismus. Schulverweigerung ist für sie durch eine prozesshafte Entwicklung charakterisiert. Die Autorin unterscheidet zwischen der aktiven und der passiven Schulverweigerung. Die passive Schulverweigerung steht für körperliche Anwesenheit in der Schule, aber bewusstes Verweigern von Arbeitsaufträgen, gezieltes Stören des Unterrichts oder fehlende Teilhabe. Unter aktiver Schulverweigerung versteht Seeliger hingegen das bewusste Fernbleiben (vgl. Seeliger 2016, S. 26 ff.).

      Für die Unterscheidung zwischen Schulschwänzen und Schulverweigerung gilt in der Schulabsentismus-Forschung u. a. auch die quantitative Komponente. Wenn jemand öfter als fünfmal im Schuljahr der Schule unentschuldigt fernbleibt, so handelt es sich nicht mehr um Schulschwänzen, sondern um Schulverweigerung (vgl. Samjeske 2007, S. 185).

      Auch Barth bemängelt die unzureichende begriffliche Klärung. Er bringt Schulverweigerung mit der Adoleszenz in Verbindung. Für ihn ist Schulverweigerung ein übliches Verhalten der Jugendzeit. Schulverweigerung kann jedoch bereits in der Grundschule beginnen und sich bis zur Pubertät steigern (vgl. Barth 2015, S. 115).

      Für Dunkane und Ricking entwickelt sich Schulverweigerung als Reaktion auf subjektiv empfundene Bedrohung. In ihrer Studie (2017) wird deutlich, dass Schulverweigerung mit internen internalisierenden Angstsymptomen sowie mit sozialen oder leistungsbezogenen Problemlagen in der Schule zusammenhängt. Schulverweigerer*innen leiden häufig an Prüfungsangst, werden gemobbt oder befinden sich in Klassen mit schlechtem Klassenklima. 23 % der Schüler*innen gaben in der Studie an, häufig an Ängsten zu leiden (vgl. Dunkake/ Ricking 2017, S. 97).

      In der begrifflichen Annäherung bleiben weiche Formulierungen bestehen. Im wissenschaftlichen Diskurs ist man sich mittlerweile darüber einig, dass es die typische Schulverweigerer*in nicht gibt, ebenso wenig wie ein typisches Profil für Schulverweigerer*innen. Für Seeliger wird Schulverweigerung im schulischen Alltag oft über subjektive Einschätzung sowie Interpretation der Lehrpersonen, Eltern, Pädagogen*innen definiert (vgl. Seeliger 2015, S. 28).

       3.2 ANFÄNGE UND ENTWICKLUNG DER SCHULABSENTISMUSFORSCHUNG

      Wenn Lehrpersonen nicht zum Unterricht erschienen, so nannte man dieses Phänomen in der Studentensprache Schulschwänzen (vgl. Müller, 1990, S. 16).

      Erst zu einem späteren Zeitpunkt wurde dieser Begriff für die Abwesenheiten von Schüler*innen verwendet. Erste empirische Untersuchungen stammen aus der Verwahrlosungsforschung. Parallel dazu gab es psychologische Erklärungsansätze (vgl. Dunkake 2010, S. 30 f.).

      Beide Zugänge befassten sich mit den Ursachen dieser Schulpflichtverletzung. Der Fokus lag auf der Persönlichkeitsebene. Nach 1950 weitete sich der Untersuchungsraum um den soziologischen Aspekt. Die Sozialisationsinstanz Familie kam als mögliche Mitverursacherin hinzu. 1963 lag die erste empirische Studie aus der Pädagogik vor. Klauer untersuchte hierbei Schulpflichtverletzungen auf der motivationalen Ebene (vgl. Fahrenholz 2015, S. 14 f.).

      Ab 1970 setzte ein Paradigmenwechsel in der Forschung ein und es entwickelte sich die Erkenntnis, dass Schulpflichtverletzungen multifaktorielle Ursachen zugrunde liegen (vgl. Dunkake 2007, S. 22).

      „Die sachliche Struktur des Gegenstandes ist mit vier Dimensionen einzugrenzen: die theoretische Einordnung, die Untersuchungsebene, die theoretische Reichweite und die Methodik.“

      (Simonis/Elbers 2011, S. 102)

       3.3 THEORIEN ÜBER SCHULVERWEIGERUNG

      Die Theorie ist ein System, das aufeinander bezogene Aussagen, Definitionen und Begriffe beinhaltet, Sachverhalte und Erkenntnisse ordnet, Tatbestände analysiert und erklärt sowie wissenschaftliche Prognosen trifft (vgl. Simonis/Elbers 2011, S. 103). Nachdem jede Theorie ihre Wirklichkeit anders konstruiert, ergeben sich konkurrierende Theorien, die sich entweder ergänzen oder gegenseitig in Frage stellen. Dissens und Konsens sind Faktoren, die dialektisch wirken und zu neuen Erkenntnissen führen (vgl. Zima 2004, S. 149).

       3.3.1 Kontrolltheorie

      Diese Forschungstheorie geht von der Annahme aus, dass die Bindung zu primären Bezugspersonen eine wichtige Rolle bei der Ausbildung von abweichenden Verhalten, abweichenden Werten und Normen spielt. Ein bedeutender Kontrolltheoretiker war Hirschi. In seinem Werk „Causes of Delinquency“ (1969) entwickelte er die Annahme, dass das Ausmaß der Bindung eines Individuums an die Gesellschaft eine tragende Rolle spielt. Durch Präsenz und die indirekte Kontrolle der Eltern wirkt das „schlechte Gewissen“ im Hinterkopf des Jugendlichen. Dieses hält von abweichendem Verhalten ab (vgl. Dunkake 2010, S. 122 ff.).

      Kinder und Jugendliche mit verweigerndem Verhalten brauchen eine klare Grundstruktur und klare Präsenz, auch von Seiten der Lehrpersonen (vgl. Ricking o. J., S. 13).

      Michael Wagner, Imke Dunkake und Bernd Weiß führten im Jahre 2004 empirische Analysen durch, bei denen sie Hirschis Annahmen weiterentwickelten und überprüften. Sie stellten hierfür sechs Hypothesen auf. Schulverweigerung zeigt sich vermehrt, wenn:

      • die emotionale Bindung zu den Eltern gering ist

      • der Erziehungsstil der Eltern inkonsistent oder gewalttätig ist

      • die Eltern kaum Supervision mit den Kindern durchführen

      • die Eltern wenig in die Schullaufbahn investieren

      • das Kind kaum an außerschulischen Aktivitäten teilnimmt

      • konventionelle Normen oder Werte kaum internalisiert sind (vgl. Wagner/Dunkake/Weiß 2004, S. 460 ff.).

      Die

Скачать книгу