Staatsrecht III. Hans-Georg Dederer

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haben, dass sie sich also von ihrem völkerrechtlichen Geltungsgrund gelöst haben sollen, ist – juristisch gesehen – nicht einsichtig. Diese Loslösung vom Geltungsgrund kann allenfalls ein soziologisches Phänomen sein, das eine weit fortgeschrittene Integration und eine grundlegende Änderung des Rechtsbewusstseins der Integrationspartner voraussetzt. Dies lässt sich aber beim gegenwärtigen Zustand der EU nur sehr bedingt behaupten, was insbesondere das Scheitern des Vertrags über eine Verfassung für Europa von 2004 gezeigt hat und was wohl auch dadurch bekräftigt wird, dass seit dem Vertrag von Lissabon jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 50 EUV aus der EU austreten kann. Letzteres war davor nach der hL nicht möglich.

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      Nicht ausreichend dürfte sein, dass das Unionsrecht – so wird von der hL zur Begründung angeführt – einmalige Besonderheiten aufweist. Denn erachtet man das Völkerrecht als dynamische Rechtsordnung, so sind atypische Regelungsmaterien und -konzepte nicht unbedingt etwas Außergewöhnliches. Außerdem sind die Besonderheiten, auf die der EuGH in seiner Rechtsprechung hinweist (s. Rn 75, 86), im Völkerrecht nichts gänzlich Neues. Als Beispiel sei der Deutsche Zollverein von 1834 mit seinen unabhängigen Organen, Mehrheitsbeschlüssen und transformationslos geltenden Zollgesetzen genannt.

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      Schließlich spricht auch ein verfassungsrechtsvergleichendes Argument gegen die hL. Während Art. 24 Abs. 1 GG, der ursprünglich für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäischen Gemeinschaften galt, und Art. 23 GG, der nunmehr bezüglich der EU gilt (s. Rn 120 ff), wenig über deren völkerrechtlichen oder nichtvölkerrechtlichen Charakter aussagen, ist dies bei den Verfassungen anderer Mitgliedstaaten keineswegs so. So sprechen zB Art. 49bis der luxemburgischen und Art. 92 der niederländischen Verfassung von „Institutionen des internationalen Rechts“ bzw von „völkerrechtlichen Organisationen“, denen Hoheitsrechte übertragen werden können. Es ist daher nur schwer einzusehen, warum völkerrechtliche Verträge, die Hoheitsrechte auf völkerrechtliche Organisationen übertragen, ihre Qualifikation als Völkerrecht verlieren sollen.

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      Trotz dieser Argumente gehen EuGH, BVerfG und die hL von der Eigenständigkeit des Unionsrechts aus und qualifizieren es eben als Recht sui generis. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH besteht die Eigenständigkeit des Unionsrechts darin, dass dieses „ein aus einer autonomen Rechtsquelle fließendes Recht“ darstellt, das ua selbst das Verhältnis von Unionsrecht zu entgegenstehendem innerstaatlichem Recht bestimmt (EuGH, Rs 6/64, Costa/E.N.E.L., Slg 1964, S. 1253 ff, 1269). Das BVerfG hat dies folgendermaßen ausgedrückt (zB BVerfGE 37, S. 271 ff, 277 f):

      „Der Senat hält – insoweit in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – an seiner Rechtsprechung fest, daß das Gemeinschaftsrecht weder Bestandteil der nationalen Rechtsordnung noch Völkerrecht ist, sondern eine eigenständige Rechtsordnung bildet, die aus einer autonomen Rechtsquelle fließt.“

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      Ob das BVerfG diese Auffassung weiterhin teilt, erscheint zweifelhaft. Zumindest lässt sich das beharrliche Pochen des BVerfG in jüngerer und jüngster Zeit darauf, dass die Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“ sind (BVerfGE 75, S. 223 ff, 242; 89, S. 155 ff, 190; mehrfach bestätigt in BVerfGE 123, S. 267 ff, 348 f; 126, S. 268 ff, 302 f; 134, S. 366 ff, 384; 140, S. 317 ff, 338), nicht dogmatisch bruchlos mit der alten These vereinbaren, das Unionsrecht sei „weder Bestandteil der nationalen Rechtsordnung noch Völkerrecht“. Vielmehr lässt sich die Qualifizierung der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ eigentlich nur aus einer genuin völkerrechtlich-dualistischen Perspektive dogmatisch sinnvoll begreifen. Bezeichnenderweise spricht das BVerfG im Lissabon-Urteil in Bezug auf die „Verfassung Europas“ von „Völkervertrags- oder Primärrecht“ und insoweit von einer nur „abgeleiteten Grundordnung“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 349).

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      Im Sinne einer vermittelnden Ansicht ließe sich vertreten, dass nur bestimmte Teile des geschriebenen primären Unionsrechts weiterhin Völkerrecht bilden, andere Teile dagegen sich zu einem Recht sui generis verselbständigt haben. Im Recht der internationalen Organisationen wird nämlich hinsichtlich des Gründungsvertrags zwischen vertraglichen (rechtsgeschäftlichen) und satzungsrechtlichen (verfassungsrechtlichen) Bestimmungen unterschieden. Zu ersteren gehören zB die Normen über Beitritt und Austritt sowie über das Inkrafttreten oder die Änderung des Gründungsvertrags, zu letzteren zB die Normen über Errichtung, Zuständigkeiten, Aufgaben und Befugnisse der Organe, die Finalität der Organisation sowie deren Verhältnis zu ihren Mitgliedstaaten (s. Schmahl, in: Vitzthum/Proelß, S. 342 f). Die vertraglichen (rechtsgeschäftlichen) Vorschriften könnten danach im Fall der Unionsverträge als weiterhin dem Völkerrecht zugehörig, deren satzungsrechtliche (verfassungsrechtliche) Vorschriften dagegen als autonomes Recht sui generis angesehen werden.

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      Gestützt auf die Rechtsprechung des EuGH zur Eigenständigkeit des Unionsrechts geht die europarechtliche Lösung jedenfalls davon aus, dass bei der Verhältnisfrage die Theorien über das Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht nicht zur Anwendung kommen. Die Frage müsse vielmehr anhand des Unionsrechts selbst gelöst werden.

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      Die europarechtliche Lösung kommt insgesamt gesehen zu einem Vorrang des Unionsrechts. Dies ergebe sich aus einer Reihe von Bestimmungen der Gründungsverträge (zB Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 103 Abs. 2 Buchst. e AEUV, Art. 288 Abs. 2 AEUV), vor allem aber aus dem teleologisch zu ermittelnden Prinzip der Sicherung der Funktionsfähigkeit der EU, ohne das die EU nicht existieren könne.

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      Diese insbesondere von H.P. Ipsen entwickelte hL wird auch vom EuGH vertreten. Grundlegend für diese Rechtsprechung des EuGH war der Fall Costa/E.N.E.L.

      Beispiel:

      Der Mailänder Rechtsanwalt Costa weigerte sich als ein von der Verstaatlichung betroffener Aktionär eines Elektrizitätsunternehmens, eine Stromrechnung der neugegründeten staatlichen Elektrizitätsgesellschaft E.N.E.L. in Höhe von 1925 Lire zu bezahlen. In dem daraufhin anhängig gemachten Verfahren vor dem Friedensgericht Mailand machte er geltend, das Verstaatlichungsgesetz verstoße gegen mehrere Artikel des (damaligen) EWGV. Das Gericht legte daraufhin dem EuGH gemäß Art. 177 EWGV (jetzt Art. 267 AEUV) eine entsprechende Vorabentscheidungsfrage vor. Im Rahmen seines Urteils ging der EuGH auch auf die Eigenständigkeit des (damaligen) Gemeinschaftsrechts ein und führte Folgendes aus (EuGH, Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, S. 1251 ff, 1269 ff):

      „Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist. Denn durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit

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