Staatsrecht III. Hans-Georg Dederer

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Staatsrecht III - Hans-Georg Dederer Schwerpunkte Pflichtfach

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Recht jedes Mitgliedstaates zum Austritt aus der Europäischen Union im Primärrecht sichtbar (Art. 50 EUV-Lissabon). Dieses Austrittsrecht unterstreicht die Souveränität der Mitgliedstaaten und zeigt ebenfalls, dass mit dem derzeitigen Entwicklungsstand der Europäischen Union die Grenze zum Staat im Sinne des Völkerrechts nicht überschritten ist … Kann ein Mitgliedstaat aufgrund einer selbstverantworteten Entscheidung austreten, ist der europäische Integrationsprozess nicht unumkehrbar. Die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland hängt vielmehr von ihrem dauerhaften und fortbestehenden Willen ab, der Europäischen Union anzugehören. Die rechtlichen Grenzen dieses Willens richten sich nach dem Grundgesetz.“

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      Der Vertrag von Lissabon bietet rechtsdogmatisch aber noch einen weiteren Hebel, um die bisherige Doktrin vom absoluten Vorrang zu relativieren. Seit dem Vertrag von Lissabon hat die Union die Pflicht, die „nationale Identität (der Mitgliedstaaten), die in ihren grundlegenden … verfassungsmäßigen Strukturen … zum Ausdruck kommt“, zu achten (Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV). Wird darin die „unionsrechtliche Gewährleistung der nationalen Verfassungsidentität“ gesehen (BVerfGE 123, S. 267 ff, 354), dann kann sich daraus die (eng begrenzte) Rücknahme des bislang vom EuGH erhobenen Anspruchs eines absoluten Vorrangs des Unionsrechts ableiten lassen, und zwar in dem Sinne, dass das Unionsrecht keinen absoluten Vorrang jedenfalls vor den „grundlegenden verfassungsmäßigen Strukturen“ der Mitgliedstaaten beansprucht. Tatsächlich hat das BVerfG zB angenommen, dass „die in Art. 2 EUV … normierten Werte … im Kollisionsfall keinen Vorrang gegenüber der von Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV… geschützten … Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten beanspruchen (können)“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 397). Der EuGH hat mit Rücksicht auf Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV etwas später anerkannt, dass die „Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den (deutschen Bundes-)Ländern“ unionsrechtlich nicht in Frage gestellt werden kann (EuGH, Rs. C-156/13, Digibet und Albers, ECLI:EU:C:2014, Randnr 34).

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      Darüber hinaus könnte sich in der neuesten Rechtsprechung des EuGH eine Relativierung des absoluten Vorrangs des Unionsrechts – zumindest im Zusammenhang mit Straftaten – andeuten. Zunächst hatte er in der Rechtssache Taricco entschieden, dass die italienischen Verjährungsvorsschriften bei den die Mehrwertsteuer betreffenden Straftaten Art. 325 AEUV verletzen könnten, wenn sie ua eine wirksame und abschreckende Sanktionierung verhinderten. Nach italienischem Recht verlängert nämlich eine Unterbrechung der Verjährung der Strafverfolgung die Verjährungsfrist grundsätzlich nur um maximal ein Viertel. Dies könnte eine wirksame und abschreckende Sanktionierung ausschließen. In solchen Fällen müssten – so der EuGH – die nationalen Gerichte die Verjährungsvorschriften gegebenenfalls unangewendet lassen (EuGH, Rs C-105/14, Taricco ua, ECLI:EU:C:2015:555, Randnrn 49 ff). Dies stellte insofern eine Anwendung und damit Bestätigung der bisherigen Vorrangrechtsprechung dar, als nach italienischem Recht die Verjährungsvorschriften zum materiellen Strafrecht gehören und somit eine Kollision zwischen materiellem Unionsrecht und materiellem nationalen Recht vorlag. In solchen Fällen greift der Vorrang; anderenfalls würde es sich um ein Vollzugproblem handeln, bei dem materielles Unionsrecht mit nationalem Verfahrensrecht kollidiert (s. dazu Rn 105).

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      In der Rechtsache M.A.S. und M.B. (auch „Taricco II“ genannt) geht der EuGH nun allerdings davon aus, dass die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Nichtanwendung der nationalen Verjährungsvorschriften iSd Taricco-Urteils und damit zur Beachtung des absoluten Vorrangs dann nicht bestehe, wenn dies zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen führe. Konkret stellte er auf das Bestimmtheitsgebot und auf das strafrechtliche Rückwirkungsverbot ab, beides wichtige Rechtsgrundsätze sowohl im nationalen wie im unionalen Bereich (vgl Art. 49 Abs. 1 GRC), denen grundlegende Bedeutung zukomme (EuGH, Rs C-42/17, M.A.S. und M.B., ECLI:EU:C:2017:936, Randnrn 29 ff).

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      Wie weit diese neue Vorrangrechtsprechung geht und ob sie insbesondere über den strafrechtlichen Bereich hinausgeht, ist allerdings noch nicht ausreichend geklärt. Diese neueste Wendung der Rechtsprechung des EuGH könnte sich so deuten lassen, dass der Vorrang des Unionsrechts mit Rücksicht auf grundlegende Verfassungsstrukturen eines Mitgliedstaates zumindest dann nicht durchgreift, wenn jene Strukturelemente zugleich in der Unionsrechtsordnung selbst als Fundamentalregeln anerkannt sind. Denn dann lässt sich argumentieren, dass in Wahrheit schon kein Normkonflikt zwischen (materiellem) Unionsrecht und (materiellem) nationalem Recht vorliegt (so auch die „Grundannahme“ des italienischen Verfassungsgerichtshofs, EuGRZ 2018, S. 685 ff, 692).

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      Der Anwendungsvorrang gilt nach der Rechtsprechung des EuGH nicht nur gegenüber generell-abstrakten Normen, wie Gesetzen, sondern uU auch gegenüber individuell-konkreten Akten, wie Verwaltungsakten, die bereits bestandskräftig geworden sind.

      Beispiel:

      § 4 Abs. 1 S. 1 des Landschaftsschutzgesetzes des österreichischen Bundeslandes Vorarlberg sieht vor, dass im Bereich von Seen und eines daran anschließenden 500 m breiten Uferstreifens, gerechnet bei mittlerem Wasserstand, jegliche Veränderung in der Landschaft verboten ist.

      Nach § 4 Abs. 2 kann die Behörde unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen von der Vorschrift des Absatzes 1 bewilligen.

      Die ABC-Charter Gesellschaft mbH pachtete im Uferbereich des Bodensees gelegene Grundstücke, auf denen sie im Jahr 1990 200 Bootsliegeplätze errichten durfte. Durch Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Bregenz wurde bestimmt, dass davon maximal 60 Boote, deren Eigner ihren Wohnsitz im Ausland haben, im Hafen untergebracht werden dürfen. Als dieses Kontingent nach dem Beitritt Österreichs zur EU im Jahr 1995 um zwei Liegeplätze überschritten wurde, wurden über Herrn Ciola, den Geschäftsführer der Gesellschaft, gestützt auf eine Sanktionsbestimmung im Genehmigungsbescheid zwei Geldstrafen von jeweils 75 000 ÖS verhängt. Der mit der Angelegenheit befasste Verwaltungsgerichtshof fragte den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 177 EWGV (jetzt Art. 267 AEUV), ob die Dienstleistungsfreiheit dahingehend auszulegen sei, dass eine derartige Kontingentierung mit Strafandrohung verboten sei. Der EuGH bejahte dies. Zur weiteren Frage des Verwaltungsgerichtshofs, ob man sich gegenüber einem Bescheid auch dann noch auf die Dienstleistungsfreiheit berufen könne, wenn dieser bestandskräftig geworden ist, führte der EuGH ua Folgendes aus (EuGH, Rs. C-224/97, Ciola/Land Vorarlberg, Slg. 1999, S. I-2517 ff):

      „(25) Vorab ist … festzustellen, daß der Rechtsstreit nicht das rechtliche Schicksal des Verwaltungsaktes … selbst, sondern die Frage betrifft, ob ein solcher Verwaltungsakt im Rahmen der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Sanktion, die wegen der Nichtbeachtung einer sich aus ihm ergebenden Verpflichtung verhängt wurde, deshalb unangewendet bleiben muss, weil er mit dem Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs unvereinbar ist.

      (26) Sodann ist darauf hinzuweisen, daß die Bestimmungen des EG-Vertrags, da sie in der Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats unmittelbar gelten und da das Gemeinschaftsrecht dem nationalen Recht vorgeht, Rechte zugunsten der Betroffenen erzeugen, die die nationalen Behörden zu achten und zu wahren haben, so daß ihnen entgegenstehende Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts aus diesem Grund unanwendbar werden (vgl Urteil vom 4. April 1974 in der Rechtssache 167/73, Kommission/Frankreich, Slg. 1974, 359, Randnr 35) …

      (30) Zum einen haben sich

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