Staatsrecht III. Hans-Georg Dederer

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Staatsrecht III - Hans-Georg Dederer Schwerpunkte Pflichtfach

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      Anderes gilt dann, wenn der Gesetzgeber in seinem späteren Gesetz den Willen zum Bruch des Völkerrechts, insbesondere eines völkerrechtlichen Vertrags, klar bekundet hat (sog. „treaty override“; s. Rn 837 ff). Dann soll nach dem Willen des Gesetzgebers das spätere Gesetz dem früheren völkerrechtlichen Vertrag nach der lex posterior-Regel vorgehen. Eine solche „Abkommensüberschreibung“ ist allerdings entgegen der Auffassung des BVerfG (BVerfGE 141, S. 1 ff) mit dem Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit schwer zu vereinbaren (s. Rn 67, 839 f, 892). Denn nach diesem Prinzip sind „die deutschen Staatsorgane verpflichtet, die die Bundesrepublik Deutschland bindenden Völkerrechtsnormen zu befolgen und Verletzungen nach Möglichkeit zu unterlassen“ (BVerfGE 112, S. 1 ff, 26). Der letztlich notwendige Ausgleich zwischen Herrschaft des Rechts (Rechtsstaatsprinzip) und Herrschaft des Volkes (Demokratieprinzip) ist in der Weise herzustellen, dass der jeweilige unmittelbar demokratisch legitimierte Gesetzgeber einen älteren völkerrechtlichen Vertrag nicht einseitig „überschreiben“, sondern das für notwendig erachtete, aber mit dem geltenden völkerrechtlichen Vertrag unvereinbare Gesetz erst nach einer entsprechenden Vertragsänderung (Rn 125 ff) oder -beendigung (Rn 128 ff) oder nur unter Berufung auf völkerrechtlich anerkannte Rechtfertigungsgründe (zB als Notstands- oder Gegenmaßnahme, s. Art. 22 und Art. 25 ILC-Artikel über Staatenverantwortlichkeit; Sartorius II, Nr 6) erlassen darf.

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      Mit dem Konzept der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG geht eine erhöhte verfassungsgerichtliche Kontrolldichte gegenüber den Fachgerichten einher. So unterliegt die fehlerhafte Anwendung oder Nichtbeachtung von Völkerrecht durch die Fachgerichte der uneingeschränkten Kontrolle des BVerfG. Das Gericht hat das folgendermaßen begründet (BVerfGE 111, S. 307 ff, 328):

      „Allerdings ist das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Zuständigkeit auch dazu berufen, Verletzungen des Völkerrechts, die in der fehlerhaften Anwendung oder Nichtbeachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen durch deutsche Gerichte liegen und eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit Deutschlands begründen können, nach Möglichkeit zu verhindern und zu beseitigen (vgl BVerfGE 58, 1 [34]; 59, 63 [89]; 109, 13 [23]). Das Bundesverfassungsgericht steht damit mittelbar im Dienst der Durchsetzung des Völkerrechts und vermindert dadurch das Risiko der Nichtbefolgung internationalen Rechts. Aus diesem Grund kann es geboten sein, abweichend von dem herkömmlichen Maßstab die Anwendung und Auslegung völkerrechtlicher Verträge durch die Fachgerichte zu überprüfen.“

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      Das Gebot völkerrechtskonformer Auslegung und Anwendung greift auch für das Verfassungsrecht. Das Grundgesetz ist daher nach Möglichkeit so auszulegen, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht (BVerfGE 111, S. 307 ff, 318). Allerdings darf es dadurch nicht zu einer Einschränkung des Grundrechtsschutzes in Deutschland kommen (BVerfGE 74, S. 358 ff, 370; stRspr).

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      Das gilt insbesondere mit Blick auf die Europäische Menschenrechtskonvention, zumal in ihrer Interpretation durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (BVerfGE 128, S. 326 ff, 367 f):

      „Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes.“

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      Auch andere internationale Menschenrechtsverträge hat das BVerfG schon als „Auslegungshilfen“ heran- bzw in Erwägung gezogen. Beispiele sind der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Sartorius II, Nr 20; zB BVerfG, NJW 2019, S. 1201 ff, 1206 f), der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sartorius II, Nr 21; zB BVerfGE 149, S. 126 ff, 151 f), die UN-Behindertenrechtekonvention (zB BVerfG, NJW 2019, S. 1201 ff, 1206 ff) und die UN-Kinderrechtekonvention (zB BVerfG, NJW 2015, S. 3366 ff, 3367).

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      Darüber hinaus hat das BVerfG internationale menschenrechtliche Standards aus rechtlich nicht verbindlichen internationalen Dokumenten (sog. soft law) herangezogen. Deren Nichteinhaltung kann danach ein Indiz oder zumindest Anhaltspunkt für eine (mögliche) Grundrechtsverletzung sein.

      Beispiele:

      S. für den Jugendstrafvollzug BVerfGE 116, S. 69 ff, 90 f mit unspezifischem Bezug auf die „im Rahmen der Vereinten Nationen oder von Organen des Europarates beschlossenen einschlägigen Richtlinien und Empfehlungen“; für den Zustand von Untersuchunghafträumen BVerfG, EuGRZ 2008, S. 83 ff mit Verweis auf die „Europäischen Strafvollzugsgrundsätze“ des Europarats und auf die „im Rahmen der Vereinten Nationen erarbeiteten Mindestregeln für die Behandlung der Gefangenen“; zur medizinischen Zwangsbehandlung von im Maßregelvollzug Untergebrachten BVerfGE 128, S. 282 ff, 307 f, 313 unter Hinweis auf die „Grundsätze für den Schutz von psychisch Kranken und die Verbesserung der psychiatrischen Versorgung“ der VN; zu Einschlusszeiten von Untersuchungsgefangenen BVerfG, StV 2013, S. 521 ff und zur Unterbringung vollständig entkleideter Strafgefangener in einer videoüberwachten Zelle BVerfG, NJW 2015, S. 2100 ff, 2191, jeweils mit Hinweisen auf Jahresberichte des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe.

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      Aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG hat das BVerfG außerdem die Pflicht aller Staatsorgane abgeleitet, Völkerrecht zu respektieren. Diese Pflicht soll drei Dimensionen haben (BVerfGE 112, S. 1 ff, 26):

      „Erstens sind die deutschen Staatsorgane verpflichtet, die die Bundesrepublik Deutschland bindenden Völkerrechtsnormen zu befolgen und Verletzungen nach Möglichkeit zu unterlassen… Zweitens hat der Gesetzgeber für die deutsche Rechtsordnung zu gewährleisten, dass durch eigene Staatsorgane begangene Völkerrechtsverstöße korrigiert werden können. Drittens können die deutschen Staatsorgane – unter hier nicht näher zu bestimmenden Voraussetzungen – auch verpflichtet sein, das Völkerrecht im eigenen Verantwortungsbereich zur Geltung zu bringen, wenn andere Staaten es verletzen.“

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      Insbesondere für die zuletzt genannte Pflichtendimension (= die Verpflichtung, „das Völkerrecht im eigenen Verantwortungsbereich zur Geltung zu bringen, wenn andere Staaten es verletzen“) greift eine weitere vom BVerfG angenommene Verpflichtung, nämlich (BVerfGE 112, S. 1 ff, 24):

      „auf seinem Territorium die Unversehrtheit der elementaren Grundsätze des Völkerrechts zu garantieren und bei Völkerrechtsverletzungen nach Maßgabe seiner Verantwortung und im Rahmen seiner Handlungsmöglichkeiten einen Zustand näher am Völkerrecht herbeizuführen.“

      Das hat die Richterin Lübbe-Wolff in ihrem Sondervotum markant kritisiert (BVerfGE 112, S. 1 ff, 47 ff), insbesondere mit dem folgenden Hinweis (S. 49):

      „Das

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