Staatsrecht III. Hans-Georg Dederer

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Staatsrecht III - Hans-Georg Dederer Schwerpunkte Pflichtfach

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und bei der Errichtung von unabhängigen Einrichtungen und Stellen der Europäischen Union“. Deshalb dürfen zB EU-Agenturen nicht beliebig als unabhängige Behörden eingerichtet werden. Vielmehr können auch durch Unabhängigkeit bedingte „Einflussknicks“ nur aus „verfassungsrechtlich legitimen Gründen“ vor Art. 20 Abs. 1 und 2 GG Bestand haben (BVerfG, NJW 2019, S. 3204 ff, 3208).

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      In seinem Beschluss vom 15. Dezember 2015 hat das BVerfG außerdem auf die Grundsätze des Art. 1 GG als Bestandteil der Verfassungsidentität Bezug genommen. Zu diesen Grundsätzen gehörten „die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG), aber auch der in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt“ (sog. „Schuldgrundsatz“; BVerfGE 140, S. 317 ff, 341). Dabei hat das Gericht erneut jede Relativierung im Einzelfall ausgeschlossen (ibidem, Rz 49).

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      Auf dem Weg über Art. 1 Abs. 1 GG kommt das BVerfG – im Rahmen der Verfassungsidentitätskontrolle – zur Grundrechtskontrolle im Einzelfall. Wo es um die Verletzung des grundrechtlichen Achtungsanspruchs aus der Menschenwürde durch Unionsrechtsakte geht, zieht sich das BVerfG nicht mehr (wie bisher, s. Rn 186) aus der Grundrechtskontrolle zurück, sondern sieht sich zur Prüfung im Einzelfall eines Grundrechtsverstoßes befugt. Damit aber ist die Einzelfallkontrolle nicht nur für Art. 1 Abs. 1 GG, sondern für alle Grundrechte des GG eröffnet, weil und soweit es um den jeweiligen Menschenwürdekern des betreffenden Grundrechts geht (vgl BVerfGE 109, S. 279 ff, 310 f).

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      Für Zwecke einer solchen Grundrechtskontrolle im Einzelfall kann das BVerfG über eine Verfassungsbeschwerde angerufen werden. Dabei sollen allerdings erhöhte Anforderungen an die Darlegungslast bestehen. Es müsse „substantiiert dargelegt“ werden, inwieweit die Menschenwürdegarantie im Einzelfall verletzt ist (BVerfGE 140, S. 317 ff, 341 f). Gegenständlich kann sich dabei die Verfassungsbeschwerde auch auf solche Akte deutscher Staatsgewalt beziehen, die vom Unionsrecht „determiniert“ sind (ibidem, Rz 51).

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      Mit dieser Rechtsprechung begibt sich das Gericht freilich – durchaus sehenden Auges (vgl BVerfGE 140, S. 317 ff, 354 f, 359) – auf Kollisionskurs mit dem EuGH. Dieser hat im Melloni-Urteil (s. Rn 1316) entschieden, dass nationaler Grundrechtsschutz keinesfalls, selbst wenn er höheren Schutz als durch die Unionsgrundrechte bietet, den Vorrang, die Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen darf.

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      Ebenso wie im Fall der Ultra-vires-Kontrolle (Rn 211) kann der Einzelne im Wege der Verfassungsbeschwerde das BVerfG zwecks Identitätskontrolle anrufen. Hierzu kann er entweder eine Verletzung von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG behaupten, weil sein Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung durch Eingriff in die Verfassungsidentität beeinträchtigt werde, oder eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG oder des Menschenwürdekerns des jeweils betroffenen Grundrechts, weil das Handeln der EU mit der Menschenwürde unvereinbar sei (s. BVerfG, NJW 2019, S. 3204 ff, 3206, 3211).

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      Der Schutz der Verfassungsidentität ist kein deutsches Spezifikum. Zum einen hat die EU die Verfassungsidentität aller Mitgliedstaaten zu achten (Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV). Zum anderen ist der Gedanke eines absoluten Schutzes der nationalen Verfassungsidentität auch dem Verfassungsrecht zahlreicher anderer EU-Mitgliedstaaten geläufig (Nachweise bei BVerfGE 134, S. 366 ff, 387; aktualisiert in BVerfGE 140, S. 317 ff, 340 f; 142, S. 123 ff, 197 f).

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      Allerdings ist auch zu sehen, dass eine Nichtanwendbarkeitserklärung des BVerfG, mit der Unionsrecht nach einer Ultra-vires-Kontrolle oder einer Verfassungsidentitätskontrolle (oder einer in deren Rahmen durchgeführten Grundrechtskontrolle am Maßstab des Art. 1 GG) innerstaatlich für nicht anwendbar erklärt würde, eine rechtlich nicht mehr lösbare Krise auslösen dürfte. Denn der EuGH wäre gemäß dem Prüfprogramm des BVerfG (s. Rn 203 und Rn 226) vorab bereits mit Fragen der Auslegung oder Gültigkeit des betreffenden Unionsrechtsakts befasst gewesen. Die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens (Art. 258 AEUV) durch die Kommission gegen Deutschland vor dem EuGH wegen der Nichtanwendbarkeitserklärung des BVerfG wäre zwar möglich. Der EuGH dürfte aber auf seiner Rechtsprechung, wie er sie im Vorabentscheidungsverfahren in Bezug auf den konkreten Unionsrechtsakt schon abschließend zum Ausdruck gebracht hatte, weiterhin beharren. Gelöst werden könnte die Krise dann wohl nur noch politisch, zB im Wege einer Änderung des Unionsrechts.

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      Zusammenfassung: Im Bereich der verfassungsrechtlichen Grundstrukturen geht das BVerfG von einem faktischen Vorrang des GG aus. Sowohl bei der Ultra-vires-Kontrolle als auch bei der Identitätskontrolle kann das BVerfG offensichtlich und erheblich kompetenzwidrige bzw den unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des GG verletzende Maßnahmen der EU für in Deutschland unanwendbar erklären. Es handelt sich dabei nicht um eine eigentliche Vorranglösung, weil nicht eine Kollision zwischen Unionsrecht und deutschem Recht aufgelöst, sondern eher am Entstehen gehindert wird. Der Sache nach aber ist dem BVerfG zuzustimmen, dass dadurch sichergestellt wird, „dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbestehenden verfassungsrechtlichen Ermächtigung gilt“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 354).

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      Bei einer Zusammenschau der drei vom BVerfG beanspruchten Kontrollinstrumente (Grundrechts-, Ultra-vires- und Identitätskontrolle) fällt auf, dass sie hinsichtlich des Prüfprogramms nicht einheitlich gehandhabt werden. Während sich die Ultra-vires-Kontrolle und die Identitätskontrolle – wie auch das OMT-Verfahren (s. Rn 205) und der Beschluss vom 15. Januar 2015 (BVerfGE 140, S. 317 ff) zeigen – auf einen Unionsrechtsakt im Einzelfall beziehen und dabei zur Verwerfung eines individuellen Unionsrechtsaktes durch das BVerfG führen können, übt das BVerfG seine Verwerfungskompetenz für einzelne Unionsrechtsakte im Fall der Grundrechtskontrolle einstweilen in der Regel nicht aus. Gute Gründe sprechen dafür, auch im Bereich der Grundrechtskontrolle zur Einzelfallprüfung überzugehen (s. Dederer, JZ 2014, S. 313 ff, 317 f). In diese Richtung scheint zum einen das Vorratsdatenspeicherungs-Urteil (s. Rn 190 ff) zu weisen. Zum anderen nimmt das BVerfG im Wege der Identitätskontrolle über Art. 79 Abs. 3 iVm Art. 1 Abs. 1 GG nunmehr doch eine Grundrechtskontrolle im Einzelfall, allerdings beschränkt auf die Menschenwürdegarantie, in Anspruch (BVerfGE 140, S. 317 ff, 341).

      226

      Darüber

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