Staatsrecht III. Hans-Georg Dederer

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müssen danach „über die Einhaltung des Integrationsprogramms wachen“, dürfen „am Zustandekommen und an der Umsetzung von Maßnahmen, die die Grenzen des Integrationsprogramms überschreiten, nicht mitwirken“ und müssen „bei offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen … von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union ohne ihre Mitwirkung aktiv auf seine Befolgung und die Beachtung seiner Grenzen hinwirken“ (BVerfG, NJW 2019, S. 3204 ff, 3209).

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      Die Ultra-vires-Kontrolle des BVerfG kann dabei vom Einzelnen im Wege der Verfassungsbeschwerde aktiviert werden. Hierzu kann er sich entweder auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG stützen mit der Behauptung, sein Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung werde durch Nicht- oder unzureichende Wahrnehmung der Integrationsverantwortung seitens der deutschen Verfassungsorgane verletzt, oder auf das jeweils betroffene Grundrecht mit der Behauptung, es werde durch Ultra-vires-Handeln der EU betroffen (s. BVerfG, NJW 2019, S. 3204 ff, 3209, 3211).

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      Das BVerfG hat im Lissabon-Urteil eine weitere Kontrollmöglichkeit, die Identitätskontrolle, eingeführt, die gleichfalls dazu führen kann, dass eine Handlung der EU für unanwendbar erklärt wird. Das BVerfG hat dazu Folgendes ausgeführt (BVerfGE 123, S. 267 ff, 353 f):

      „Innerhalb der deutschen Jurisdiktion muss es zudem möglich sein, die Integrationsverantwortung … zur Wahrung des unantastbaren Kerngehalts der Verfassungsidentität des Grundgesetzes im Rahmen einer Identitätskontrolle einfordern zu können … Das Bundesverfassungsgericht hat hierfür bereits den Weg der Ultra-vires-Kontrolle eröffnet, die im Fall von Grenzdurchbrechungen bei der Inanspruchnahme von Zuständigkeiten durch Gemeinschafts- und Unionsorgane greift … Darüber hinaus prüft das Bundesverfassungsgericht, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113, 273 [296]) … Die Identitätskontrolle ermöglicht die Prüfung, ob infolge des Handelns europäischer Organe die in Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze der Art. 1 und Art. 20 GG verletzt werden. Damit wird sichergestellt, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbestehenden verfassungsrechtlichen Ermächtigung gilt.

      Sowohl die Ultra-vires- als auch die Identitätskontrolle können dazu führen, dass Gemeinschafts- oder künftig Unionsrecht in Deutschland für unanwendbar erklärt wird. Zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung verlangt die europarechtsfreundliche Anwendung von Verfassungsrecht bei Beachtung des in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck gebrachten Rechtsgedankens, dass … die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität nur dem Bundesverfassungsgericht obliegt. In welchen Verfahren das Bundesverfassungsgericht im Einzelnen mit dieser Kontrolle befasst werden kann, braucht an dieser Stelle nicht entschieden zu werden. In Betracht kommt die Inanspruchnahme bereits jetzt vorgesehener Verfahren, mithin die abstrakte (Art. 93 Abs. 1 Nr 2 GG) und konkrete (Art. 100 Abs. 1 GG) Normenkontrolle, der Organstreit (Art. 93 Abs. 1 Nr 1 GG), der Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr 3 GG) und die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG) …“

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      Die Identitätskontrolle bezieht sich danach auf den unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des GG, der vom BVerfG in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 iVm der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG verortet wird. Das ist nicht ganz schlüssig, da sich der Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG lediglich auf primäres Unionsrecht (Gründungsverträge, Änderungs- und Beitrittsverträge sowie vergleichbare Regelungen, s. Rn 133) bezieht. Gleichwohl erscheint es im Rahmen einer teleologischen Interpretation vertretbar. Mit dem BVerfG lässt sich das so begründen (BVerfGE 134, S. 366 ff, 384):

      „Hat die Maßnahme eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union Auswirkungen, die die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Verfassungsidentität berühren, so ist sie in Deutschland von vornherein unanwendbar. Auf einer primärrechtlichen Ermächtigung kann eine derartige Maßnahme nicht beruhen, weil auch der mit der Mehrheit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG entscheidende Integrationsgesetzgeber der Europäischen Union keine Hoheitsrechte übertragen kann, mit deren Inanspruchnahme eine Berührung der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität einherginge.“

      Ein identitätsverletzender sekundärer Unionsrechtsakt ergeht daher nach dieser Rechtsprechung immer auch ultra vires. Denn für die identitätsverletzende Ausübung von Hoheitsgewalt fehlt der EU schlicht die Kompetenz. Dogmatisch lässt sich das auch so begreifen, dass das Integrationsgesetz iSv Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG, sollte es entgegen Art. 23 Abs. 1 Satz 3 iVm Art. 79 Abs. 3 GG Hoheitsrechte übertragen haben, deren Inanspruchnahme die in Art. 79 Abs. 3 GG garantierte Verfassungsidentität verletzen würde, verfassungswidrig und damit nichtig ist. Insoweit taugt es mithin nicht als „Brücke“, dh als „konstitutiver Rechtsanwendungsbefehl“ bzw „nationale Geltungsanordnung“ für die innerstaatliche Geltung von Unionsrecht (s. Rn 167).

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      Mithin bezieht das BVerfG die Identitätskontrolle nicht nur auf den Fall einer Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG. Denn sie soll sich ausdrücklich gerade auch auf „identitätsverletzende Unionsrechtsakte im Einzelfall“ beziehen (BVerfGE 123, S. 267 ff, 355). Die Feststellung der Unanwendbarkeit eines Unionsrechtsaktes müsse auch dann erfolgen können, „wenn innerhalb … der übertragenen Hoheitsrechte diese mit Wirkung für Deutschland so ausgeübt werden, dass eine Verletzung der durch Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren … Verfassungsidentität die Folge ist“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 400). Ist der Kerngehalt der Verfassungsidentität durch eine Handlung der EU verletzt, so kann diese vom BVerfG für unanwendbar erklärt werden.

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      Mit Rücksicht auf Art. 23 Abs. 1 Satz 3 iVm Art. 79 Abs. 3 iVm Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG prüft das BVerfG im Rahmen der Identitätskontrolle, ob die Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG den „wesentlichen Inhalt“ des Grundsatzes der Volkssouveränität (vgl Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) verletzt. Das soll insbesondere der Fall sein, wenn (1) auf die EU die sog. „Kompetenz-Kompetenz“ übertragen wird, (2) dem Bundestag nicht mehr „eigene Aufgaben und Befugnisse von substanziellem politischen Gewicht verbleiben“ (wobei in jedem Fall das „Budgetrecht“ und die „haushaltspolitische Gesamtverantwortung“ beim Bundestag verbleiben müssen) und (3) die Ausgestaltung der EU, insbesondere auch die „organisatorische und verfahrensrechtliche Ausgestaltung der autonom handelnden Unionsgewalt“ nicht (mehr) demokratischen Grundsätzen entspricht (BVerfG, NJW 2019, S. 3204 ff, 3206 f).

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      Insbesondere muss danach das Prinzip demokratischer Legitimation auch für die Ausübung von Hoheitsgewalt durch die EU beachtet werden. Hierfür können nicht die gleichen Anforderungen wie in Ansehung nationaler Hoheitsgewalt gelten (Rn 151). Insbesondere können „Einflussknicks“ hingenommen werden, sofern sie „durch andere Legitimationsstränge auf supranationaler Ebene“ kompensiert werden. In jedem Fall gewahrt

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