Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
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Aus dem Kriterium des Vertrauensbruchs ergab sich für Terstegen die Anknüpfungsmöglichkeit an das zentrale Kriterium Sutherlands: die Zugehörigkeit des Täters zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe. Die Ausnutzung gesellschaftlichen Vertrauens konnte nur Tätern möglich sein, die zu einer Gruppe gehören, der das gesellschaftliche Vertrauen geschenkt wird. Dieses Vertrauen wird aber bemerkenswerterweise nicht dem konkreten Menschen, sondern ihm als Angehörigen einer Gruppe (also nur aufgrund seiner sozialen Stellung) entgegengebracht. Dieser soziologische Aspekt, der – wie Terstegen betont – kein Tatbestandsmerkmal darstellen soll, das eine Art Sonderdelikt kennzeichnet,[12] stellt die white collar-Delikte nach außen am deutlichsten heraus.[13] Welchen Gruppen Vertrauen geschenkt wird, ist vom jeweiligen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext abhängig, jedoch beobachtete Terstegen, dass weniger ein Sinneswandel hin zur Kriminalität in der „vertrauenswürdigen Gruppe“ zu beobachten war, als vielmehr die Tatsache, dass die white collar-Täter „Zeiten des Umbruchs“ nutzten, also Phasen, in denen den Nachfolgern vertrauenswürdiger Gruppen das gleiche – früher berechtigte – Vertrauen entgegengebracht wird.[14] Wenn beispielsweise durch eine bestimmte Leistung Vertrauen erworben wurde und für dieses Vertrauen ein äußeres Zeichen, wie etwa die Auszeichnung „Cabinett“ beim Wein, zuerkannt wurde, sei es ein typisches wirtschaftskriminelles Vorgehen, die Qualität des Weines durch Beifügen von Wasser zu mindern. Dabei würde nicht etwa, wie man (ungenau) annehmen könnte, das Zeichen „Cabinett“ missbraucht, sondern das Vertrauen, welches das Publikum diesem Zeichen und der dahinterstehenden Qualitätszusicherung entgegenbringt.
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Die typische Folge von Wirtschaftskriminalität sei darüberhinaus der sogenannte Sog- und Spiraleffekt. Die Wirtschaftsstraftat in einer Konkurrenzsituation stelle gleichzeitig einen Druck auf alle Konkurrenten dar, auch diese Straftaten zu begehen, um nicht vom Markt verdrängt zu werden (Sog-Effekt). Jeder, der dann mitmachte, würde seinerseits Kernpunkt eines neuen Soges (Spiraleffekt) und so würden binnen kurzer Zeit ganze Branchen erfasst. Trotz der Entfernung vom täterorientierten Konzept Sutherlands, blieb auch für Terstegen in diesen Überlegungen die Frage der Mentalität des white collar-Täters von Bedeutung. Auf den ersten Blick konnte die Ursache von Bereicherungsverbrechen im Allgemeinen in einer Notlage des Täters gesehen werden, die durch scharfe Konkurrenz entstehen konnte und einer Marktsituation, in der die legalen Wettbewerbsmittel erschöpft zu sein scheinen. Jedoch kann das Motiv der Notlage für den Bereich der white collar-Kriminalität nicht uneingeschränkt gelten. Nach Terstegens Ansicht sind Begehrlichkeit und Wohlstand – so paradox es klingen mag – die eigentlichen Handlungsursachen.[15] Aufgrund der Begrenzung der Konsumfähigkeit des Menschen sei diese Begehrlichkeit jedoch nicht auf materielle Akquise beschränkt, vielmehr könne sie auch eine Sucht nach Macht darstellen und dies wiederum nicht immer um ihrer selbst willen, sondern als Grundlage von Respektabilität (Sozialprestige) nach außen und letztlich als Grundlage der Selbstachtung.[16] Diese persönliche Disposition könne in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen besser zum Tragen kommen, da hier ein Zugang zur vertrauenswürdigen Position bestünde, welche dann zum eigenen Vorteil missbraucht werden könnte. Die so Handelnden seien dabei keineswegs – und das ist das bemerkenswerte an der „white collar-Kriminalität“ – offene Gegner der Rechtsordnung, denn es sei für ihr Vorgehen essentiell, dass „Regeln über Recht und Sitte“[17] existieren, denn sie sind ja die Voraussetzung für die Entstehung des Vertrauens, das sie ausnutzen. Während sich der „gewöhnliche“ Kriminelle also durchaus darüber im Klaren sei, dass er verbrecherisch handelt und Unrecht tut, brauche dies bei den white collar-Kriminellen keineswegs der Fall zu sein. Ihnen fehle tatsächlich meist das Empfinden für das Abgleiten in das Kriminelle, denn sie passten bezüglich ihrer übrigen Mentalität überhaupt nicht in das Stereotyp des Kriminellen. Dies werde schließlich durch den Umstand verstärkt, dass die Zugehörigkeit zu diesen „oberen Schichten“ dem Täter ermögliche, auf Gesetzgebung und Interpretation der Gesetze Einfluss zu nehmen, die tatsächliche Verfolgung durch Ausübung von Druck zu behindern oder Mittelsmänner zu bezahlen, die – ohne dass es den Anschein von Anstiftung hat, denn „es gibt genug treue Dienerinnen und Diener, die ohne Anweisung und Anstiftung wissen, was dem Nutzen des Herrn frommt“[18] – die tatbestandsmäßige Ausführungshandlung begehen.
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In eine vollkommen andere Richtung tendieren Ansätze, die kriminelle Verhaltensweisen aus den strukturellen Abläufen des Wirtschaftssystems heraus erklären.[19] Hierbei wird insbesondere der Unternehmensbezug bzw. ein betrieblich-funktionaler Zusammenhang der Wirtschaftskriminalität in den Vordergrund gerückt. So hielt auch Opp der amerikanischen Begriffsdiskussion ein betrieblich-funktionales Konzept entgegen und definierte Wirtschaftskriminalität als „diejenigen gesetzwidrigen Handlungen, die von Angehörigen wirtschaftlicher Betriebe in der Absicht begangen werden, den Aufwand/die Passiva des Betriebes zu vermindern und/oder den Ertrag/die Aktiva zu erhöhen“ oder um „im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit eingegangene Verpflichtungen nicht einzuhalten“.[20] Damit wird jedoch unternehmerisches Wirtschaften in den Vordergrund gestellt, was zu der oben kritisierten Gleichstellung von Unternehmenskriminalität mit Wirtschaftskriminalität führen kann. Beispielsweise See definiert Wirtschaftskriminalität als „illegale[...] Kapitalbeschaffung, Kapitalverwertung und [...] Kapitalsicherung [...] also das Wirtschaften unter Verletzung der jeweils geltenden Steuergesetze und Strafrechtsnormen durch die Betriebe und Unternehmen, deren erklärte[s] Hauptziel darin besteht, ihre Gewinne auf legale Weise zu erzielen, die aber zum Zwecke der Gewinnsteigerung, zur Erzielung von Extraprofiten, sich auch krimineller Praktiken [...] bedienen“.[21] Hier wird einerseits das Unternehmen auf Täterseite gesetzt, aber andererseits der Unternehmenszusammenhang nicht genau etabliert. So kann man daraus schließen, dass es gleichermaßen Wirtschaftskriminalität darstellt, wenn Personen im – mittelbaren oder unmittelbaren – Interesse des Unternehmens Straftaten begehen oder wenn es sich um eine „dysfunktionale persönliche (und eben nicht korporative) Bereicherung“[22] handelt.
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Um den Begriff Wirtschaftskriminalität gegenüber der Managerkriminaliät trennscharf zu halten, wird daher teilweise auf das Kriterium des Unternehmenszusammenhangs verzichtet und unter Wirtschaftskriminalität „im Kern“[23] Unternehmenskriminalität verstanden. Insbesondere für Boers scheint sich diese orthodox view durchgesetzt zu haben und der Begriff Wirtschaftskriminalität durch den Bezug auf die Reproduktion des Wirtschaftssystems – für ein Unternehmen – geprägt zu sein. Dies sei nicht nur in deskriptiver und analytischer Hinsicht zutreffender, da Unternehmen die zentralen Organisationseinheiten des Wirtschaftslebens