Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
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Boers/Nelles/Theile Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, S. 647.
Boers/Nelles/Theile Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, S. 20.
3. Schlussfolgerungen
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Um ein letztes Mal auf Kaisers „verwirrend bunte Palette“[1] der Wirtschaftskriminalität zurückzukommen: Sie ist, wie erwartet, nicht auf einen „Grundton“ zu bringen – sieht man von der Kompetenzzuweisung aus § 74c GVG ab. Dennoch lassen sich zahlreiche Aspekte festhalten, die eine Erhellung der Wirtschaftskriminalität im Allgemeinen und der Unternehmenskriminalität im Besonderen bedeuten und die nochmals rekapituliert werden:
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Sutherlands Konzeption bleibt ein wesentlicher Bestandteil der Beschreibung von Wirtschaftskriminalität, denn sie trägt in ihrer Differenziertheit mehr zur Diskussion bei als die Skandalisierung des Respekts vor sozialen Eliten.[2] Es sprechen zum einen Gründe dafür, wie Sutherland einen sehr weiten Bezugsrahmen für Wirtschaftskriminalität zu wählen — insbesondere im Hinblick auf ihre „Teilmenge“, die Unternehmenskriminalität: summiert sich nämlich wirtschaftsdeviantes[3] Verhalten in einem Unternehmen dadurch, dass beispielsweise immer wieder die Sicherheit auf Kosten der Schnelligkeit vernachlässigt wird, kann genau dieser – lediglich deviante Faktor – später zu einer strafrechtlich relevanten Rechtsgutsverletzung großen Ausmaßes führen.[4] Summieren sich die erwähnten „Unehrenhaftigkeiten“ und moralisch fragwürdigen Verhaltensweisen, kann dies – wie im Fall des Churnings oder Scalpings[5] – dazu führen, dass strafrechtliche Grenzen neu gezogen werden müssen. Diese in besagtem „Grau wirtschaftlicher Grenzmoral“[6] befindlichen Abweichungen von Anfang an mit in die Betrachtung einzubeziehen, scheint angesichts des immer noch „unterbelichteten“ Untersuchungsgegenstands Unternehmenskriminalität notwendig. Grundsätzlich soll also alles, was ohnehin schon in den Gegenstandsbereich kriminalsoziologischer Forschung gehört und von Sutherland als „social injurious“ bezeichnet wurde, einbezogen werden; neben strafrechtlichen und ordnungswidrigkeitensrechtlichen Tatbeständen also zudem solche Verhaltensweisen, die von anderen Normen als den in Strafgesetzen fixierten abweichen.[7] Auf dieser Grundlage können dann weiter Kriterien entwickelt werden, nach denen strafloses in strafwürdiges Verhalten umzudeuten ist. Dabei gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass eine lähmende Wirkung auf die Wirtschaft zu vermeiden ist: Ökonomische Fehlentscheidungen oder individuelles Versagen auf der Leitungsebene können nicht zwangsläufig zu einer Strafbarkeit führen; schon gar nicht zu einer Unternehmensstrafbarkeit.[8] Zum zweiten ist die vielfach kritisierte Täterorientierung unverändert wertvoll für die Beschreibung von Wirtschaftskriminalität. Die Ausrichtung auf die Person des Wirtschaftsstraftäters allein kann hierbei natürlich nicht überzeugen. War die Betonung der gesellschaftlichen Herkunft vor dem Hintergrund der damaligen kriminologischen Herangehensweise verständlich, so bedarf es angesichts einer weichenden Scheu,[9] auch Vorstandsvorsitzende anzuklagen, heute weniger dieser sozialkritischen Komponente. Gleichwohl verhilft die personenbezogene Überlegung zu einem vollständigen Bild der Wirtschaftskriminalität und ist vor dem Hintergrund der Prozesse um die aus der Gesellschaft „herausragenden“ Wirtschaftsstraftäter wie Kenneth Lay, Jeffrey Skilling oder Bernard Ebbers eine erstaunlich aktuelle Perspektive. Letztlich sind es nämlich doch bestimmte Tätermerkmale, die das Phänomen Wirtschaftskriminalität in zweierlei Hinsicht charakterisieren: hinsichtlich der Zugangsmöglichkeit und hinsichtlich des Schadens.
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In nuce ist diese Beobachtung in Terstegens Überlegungen enthalten, denn er definierte Wirtschaftskriminalität als sozialwidriges, auf Bereicherung gerichtetes Verhalten, das von Personen in besonderen Positionen und Funktionen dadurch praktiziert wird, dass sie unter gleichzeitiger Voraussetzung des gesetzestreuen Verhaltens aller übrigen das ihrer Gruppe notwendigerweise entgegengebrachte Vertrauen enttäuschen.[10] Die hierbei oftmals herausgegriffene Schlussfolgerung der besonderen Tätertypologie mit den bekannten Neutralisierungsmechanismen[11] ist im Hinblick auf eine konsistente Begriffsbildung vielleicht weniger ertragreich als die zweite Beobachtung Terstegens, die letztlich auf Sutherland zurückgeht: die Handlung aus einer bestimmten „Position“ heraus. Die Besonderheit der Position besteht zum einen darin, dass sie einem Täter eingeräumt wurde, der sich bisher innerhalb des Systems regelkonform verhielt, bestimmte Barrieren überwinden konnte, sodass ihm besondere Informationen, Einblicke und Zugangsmöglichkeiten eingeräumt wurden. Während der Bankkunde beispielsweise keine Möglichkeit hat, (eigenes) Geld in eine „Steueroase“ zu verschieben – er müsste sich an verschiedenen Stellen, wie z. B. gegenüber seinem Kundenberater, in irgendeiner Form erklären –, hat sein Kundenberater mitunter andere Möglichkeiten, Gelder (unauffällig) zu transferieren. Vereinfacht dargestellt wird damit ein Umstand, der übereinstimmend in den Studien zur Wirtschaftskriminalität erwähnt wird: Wirtschaftsdelikte werden aus Positionen heraus begangen, die nicht nur einen weniger auffälligen Rechtsbruch bzw. leichter zu verdeckende Tatfolgen, sondern auch besonders hohe Schäden nach sich ziehen, die m. E. ebenfalls mit der Position des Täters zusammenhängen. Sowohl die Produktqualität und ihre Relation zum Preis im Fall des Metzgers[12] als auch die geheimen Informationen bezüglich bestimmter betrieblicher Entwicklungen des Insiderhandel treibenden Vorstandes, sowie schließlich der Informationsvorsprung des Journalisten im Fall des Scalpings sind Umstände, die mit einem „Vertrauensvorschuss“ bzw. – negativ formuliert – einer „Unkontrollierbarkeit“ verbunden sind. Dieser „Vertrauensvorschuss“ bezüglich der Position im Wirtschaftssystem und der damit eingeräumten Zugangsmöglichkeit zu kaum erkennbarem und höchst profitablem illegalen Verhalten ist unmittelbar mit den empirisch festgestellten Befunden zu Art und Umfang der Rechtsgutsverletzung bzw. dem Schaden verbunden. Erst durch diesen Informationsvorsprung auf Täterseite, die fehlende Nachprüfbarkeit auf Opferseite und das in die, wie auch immer geartete, Kompetenz des Täters gelegte (notwendige)[13] Vertrauen werden Selbstschutzmechanismen nicht aufgebaut und Rechtsgutsverletzungen großen Ausmaßes wahrscheinlicher. Der zuvor kritisch betrachtete Aspekt des Vertrauens – als zu schützendes Rechtsgut – gewinnt in diesem Zusammenhang also doch an Bedeutung. Zum einen hinsichtlich der Vorgehensweise: Der Täter benutzt das notwendige Vertrauen innerhalb der Wirtschaft, um z. B. den freien Wettbewerb durch illegale Manipulationen auszunutzen und sich damit einen Vorteil zu verschaffen. Zum zweiten – weniger als Charakteristikum, denn eher als typische Folge der Wirtschaftskriminalität – hinsichtlich des Schadens, der sich darin manifestiert, dass Kollektivität und Anonymität der Opfer zwar einen Rechtsbruch nach außen kaschieren können, jedoch jener innerhalb der Gesellschaft spürbar bleibt und dann ernsthafte immaterielle Schäden – nämlich Vertrauensverluste – nach sich zieht. Ein Zusammenhang zu Terstegens Definition, die Wirtschaftskriminalität als wirtschaftliche Handlungen bezeichnete, die „geeignet sind, die wirtschaftliche Ordnung zu beeinträchtigen, d. h. zu stören oder zu gefährden, indem das für das jeweilige Wirtschaftssystem grundlegende Vertrauen angetastet wird“,[14] ist also zumindest auf sekundärer Ebene relevant.
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Trotz dieses Erkenntnisgewinns: Auf Definitionsebene hilft Sutherlands personale Orientierung nur bedingt weiter, weil der Bezug der Handlung zu einem bestimmten strukturellen Kontext – der Wirtschaft – nicht deutlich herausgestellt wird. Hierauf soll nun verstärkt das Augenmerk gerichtet sein, denn die Beziehung der Abweichung zu einem bestimmten System ist den meisten empirischen Untersuchungen