Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
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Zu den Kernergebnissen[6] der Studie zählt, dass die Häufigkeit der Begehung von Vermögensdelikten von vier Variablen abhängt: moralische Bindung, Viktimisierung, Netzwerke und Neutralisierung, wobei letzterer eine schwache Erklärungskraft attestiert wird, weil sie zu der moralischen Bindung an das Recht in Beziehung gesetzt werden muss. Neutralisierungen, die eine Rechtsfertigungsstrategie im Bewusstsein des Normbruchs darstellen, setzen nämlich implizit eine hohe Normbindung voraus. Eine geringere moralische Bindung an das Recht würde jedoch den Rechtsbruch leichter möglich machen als eine „mühevolle Neutralisierung“. Es wird insofern ein starker Zusammenhang zwischen moralischer Bindung an das Recht und Kriminalitätsentwicklung gesehen, der für die Autoren durch die festgestellte hemmende Bedeutung religiöser Orientierung als bestätigt betrachtet wird. Diesem religiösen Faktor kommt nach dieser Studie ein direkter mindernder Einfluss auf Kriminalität und ein stärkender Einfluss auf die moralische Bindung an das Recht zu. Letztlich sind es aber Viktimisierungen und Neutralisierungen, die als die entscheidenden Faktoren hinsichtlich der Normbindung bezeichnet werden. Die Variable „Viktimisierung“ wurde unabhängig von der „Neutralisierung“ abgefragt – auch im Kontext von Bagatelldelikten – und es wurde herausgefunden, dass die eigene Erfahrung, im Wirtschaftskontext „Opfer“ mangelhafter Produkte oder kleinerer Betrügereien geworden zu sein,[7] die moralische Bindung an das Recht reduziert, die Wahrscheinlichkeit von Vermögensdelikten erhöht und die Neutralisierung verstärkt. Auf die oben ausgeführten Erkenntnisse Terstegens[8] bezogen, erinnert das an die behauptete „Sog- und Spiralwirkung“ der Wirtschaftskriminalität. In jenem Kontext schien die delinquente Handlung eines Marktteilnehmers einen kriminalitätsfördernden Einfluss auf die übrigen Teilnehmer zu haben, weil diese ihre Marktposition nur unter der Bedingung eines ähnlichen delinquenten Verhaltens halten können. Wenn ein Markt beispielsweise dadurch verzerrt wird, dass ein Akteur Bestechungsgelder zahlt, ist der Zugang zu diesen Aufträgen für die anderen Konkurrenten erschwert.
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Die vorliegende Studie legt nun die Annahme nahe, dass eine solche Viktimisierung grundsätzlich die Normverfolgungsbereitschaft tangiert. Es könnte sich nach diesen Erkenntnissen der Eindruck verstärken, dass es sich nicht nur um eine von außen vorgegebene illegale Möglichkeit handelt, die im Merton'schen Sinne die Drucksituation – bei gleichzeitig intensivem Ziel der Profitsteigerung – verschärft. Die „Sog- und Spiralwirkung“ durch das abweichende Verhalten eines wirtschaftlichen Akteurs verstärkt auch die Viktimisierung der übrigen Akteure, die – zumindest nach dieser Studie – als signifikanter kriminogener Faktor angesehen wird. Ebenso weist die Studie auf kriminogene Netzwerke als entscheidenen Faktor hin: Netzwerke, in denen Akteure Bestätigung oder Zustimmung hinsichtlich ihrer Straftaten erfahren, erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Bereicherungsdelikten deutlich, schwächen die moralische Bindung an das Recht, steigern Neutralisierungstendenzen und fördern das Selbstinteresse.[9] Die in seiner Theorie der differentiellen Kontakte vorgetragenen Annahmen Sutherlands werden also bestätigt: Kriminogenen Netzwerken wird ein direkter Effekt auf das kriminelle Verhalten attestiert, weil nicht nur die Variable „moralische Bindung an das Recht“ nachweislich gesenkt wird, sondern auch ihr „Gegenspieler“ – das Selbstinteresse der Akteure – nachhaltig gesteigert wird.
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Damit wird das Unternehmen als die geschlossene Enklave des Wirtschaftssystems, innerhalb derer sich die Unternehmensmitglieder gemeinsamen Zielen verschreiben, zu einem Risikofaktor. Innerhalb dieses Netzwerkes könnten die beschriebenen kriminogenen Lern- und Nachahmungseffekte jedenfalls leichter um sich greifen. Je mehr kriminelle Attitüden in solchen Umgebungen gepflegt werden, desto mehr wird das Selbstinteresse des Individuums gesteigert und die moralische Bindung an das Recht geschwächt.[10] Diese Effekte werden aber – laut dieser Studie – nicht durch den unter Umständen im Unternehmen abgebildeten Kontext „Wirtschaft“ ausgelöst, da „die geringsten Effekte aufgrund befürwortender Einstellungen zur Marktwirtschaft“ zu erwarten sind und die positive Bewertung der Marktlage auch nicht mit der Erhöhung der Variable „Selbstinteresse“ korreliert.[11] Hieraus wird gefolgert, dass auch ein hoher Einsatz für den Erfolg des eigenen Wirtschaftsunternehmens nicht die Wahrscheinlichkeit erhöht, selbst in die Wirtschaftskriminalität abzugleiten.[12]
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Eine solche Schlussfolgerung ist nur bedingt nachzuvollziehen, denn sie setzt implizit voraus, dass die Variable „Selbstinteresse“ entscheidend bei der Entwicklung der Wirtschaftskriminalität ist. In den Schlussbetrachtungen wird diese Variable auch in den Mittelpunkt gestellt[13] und festgestellt, dass mit steigendem Wohlstand das mittelbar kriminogene Selbstinteresse sinkt. Dies allein ist jedoch wenig aussagekräftig bezüglich der kriminogenen Wirkung des Kontextes Wirtschaft. Es wird zwar darauf hingewiesen, dass sich mit steigendem Einkommen ein „instrumentelles Rechtsverständnis“ entwickelt und das Recht eher als disponibel empfunden wird, da es mit steigendem Einkommen leichter sei, den Normbefehl für sich zu suspendieren. Vor dem Hintergrund von Mertons Anomietheorie ist es aber vorstellbar, dass der Kontext Wirtschaft genau dadurch kriminogen wirkt. Obwohl er nicht das Selbstinteresse des Akteurs erhöht, erhöht er doch die Perzeption illegitimer Möglichkeiten und somit einen durchaus relevanten kriminogenen Faktor.[14]
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Ein Verbindung zwischen einem erhöhten Selbstinteresse und einer geschwächten moralischen Bindung wird in der Pfadanalyse[15] der Studie erstellt, jedoch nur als schwach ausgewiesen und ist nur über den Aspekt „Einkommen“ auf den Faktor „Wirtschaft“ zurückführen. Damit ist jedoch noch nicht ausgeschlossen, dass andere Aspekte des wirtschaftlichen Kontextes, wie beispielsweise eine grundsätzliche Profitorientierung als „Überlebensvoraussetzung“ auf dem Markt, eine wichtige Rolle spielen. Diese Überlegung wird angedeutet, wenn ausgeführt wird, dass das „Gewinnstreben in der Marktwirtschaft nicht gänzlich ohne Grenzen praktiziert werden“[16] sollte, allerdings wird hier lediglich auf die Einhaltung der Fairnessregeln rekurriert und die kriminogenen Effekte v. a. beim „Ausschalten des fairen Wettbewerbs“[17] vermutet. Dies stellt sicherlich einen bedeutsamen Aspekt dar, sagt jedoch nichts darüber aus, aus welchen Gründen Fairnessregeln in bestimmten Situationen nicht respektiert werden. Zumindest einen starken Zusammenhang zwischen Viktimisierung und moralischer Bindungswirkung von Normen weist diese Studie in diesem Zusammenhang aber nach und lässt es wahrscheinlich erscheinen, dass die oben beschriebene Sog- und Spiralwirkung aus einem ähnlichen Mechanismus heraus erklärbar ist. Es spricht zumindest einiges dafür, dass schon die Beobachtung von wirtschaftskriminellem Verhalten Hemmungen, selbst illegales Verhalten zur Zielverwirklichung einzusetzen, abbaut. Dennoch kann aus der ambivalenten Wirkung[18] der Wirtschaft auf die moralische Bindung kaum die nicht-kriminogene Wirkung ihres „systemspezifischen Programms“ gefolgert werden.
Anmerkungen
Vgl. z. B. Bussman/England/Hienzsch MschrKrim 2004, 244 und im Zusammenhang mit den Werthaltungen, die durch das Wirtschaftssystem bedingt sind, Schlegel u. a. Wirtschaftskriminalität und Werte, S. 33 ff.