Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
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Allerdings zeigte Milgram in seinem Experiment,[9] dass auch formell nicht-autoritäre Aktionszusammenhänge einen deutlich neutralisierenden Effekt auf Individuen haben können. Er konstatierte eine außerordentlich hohe Gehorsamsbereitschaft gegenüber evident unmoralischen und auf die Anwendung von Gewalt gerichteten Befehlen, auch wenn sie im Widerspruch zu ihren Wertvorstellungen standen. Milgram folgerte hieraus zwei Funktionszustände: zum einen der Zustand der Autonomie, in dem das Individuum sich als für seine Handlungen verantwortlich erlebt, und zum anderen der Agens-Zustand, in den es durch den Eintritt in ein Autoritätssystem versetzt wird und nicht mehr aufgrund eigener Zielsetzungen handelt, sondern zum Instrument der Wünsche anderer wird. Dieser Agens-Zustand wurde in Milgrams Experiment leichter erreicht, wenn die Probanden den vermeintlichen Schüler nicht sahen[10] und ihr Unrechtsbewußtsein nicht durch die Sichtbarkeit des moralischen Unrechts geweckt werden konnte.
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Diese Beobachtungen stimmen nicht nur mit makrokriminologischen Forschungsergebnissen überein, die ebenfalls eine Deindividualisierung des Opfers festhalten,[11] sondern auch mit den Aussagen Sutherlands, die er im Zusammenhang mit der Theorie differentiellen Kontakte trifft.[12] Desweiteren enthalten sie insofern Parallelen zu den empirischen Erkenntnissen zur Wirtschaftskriminalität, als die Unsichtbarkeit des Rechtsbruchs, fehlenden Affektivität der Handlungen, die Anonymität der Opfer und Neutralisierungstechniken mehrfach Erwähnung fanden. Der „opferbezogene Abstrahierungsprozess“[13] lässt sich also leicht in Übereinstimmung mit dem erläuterten theoretischen Bezugsrahmen bringen; die aus sozialpsychologischer Sicht erklärte „Konformität abweichenden Verhaltens“ dagegen schwer. Laut Jäger existiert eine „Kriminalitätstheorie, die solche Einflüsse auf das individuelle Verhalten, wie überhaupt die komplexen Entstehungsbedingungen kollektiver Verbrechen zu erfassen sucht“ nur in fragmentarischen Ansätzen.[14] Grund ist, dass die Zuschreibung von strafrechtlicher Verantwortung im Allgemeinen bei der Abweichung von Normen erfolgt und hier nicht Abweichung, sondern Konformität einen Hauptbeweggrund im Handeln des Einzelnen darstellt. Ebenso wie Alwart auf semantischer Ebene mit Bedacht vorging und den Begriff Mesokriminalität statt Makrokriminalität in die Diskussion einführte, muss nun bei Erklärung dieser mesokriminellen Prozessen vorgegangen werden. Die Makrosoziologie bietet gedankliche Anknüpfungspunkte, wirft dabei jedoch auch zusätzliche Fragen auf: Zum einen wird grundsätzlich zu differenzieren sein, wo Überschneidungen und wo Unterschiede in der Frage des Einflusses des Kollektivs auf das Individuum bestehen. Zum zweiten muss dort, wo eine (un-)mittelbare (kriminogene) Beeinflussung plausibel erscheint, geprüft werden, ob die Taten, die im Zusammenhang mit diesen gruppendynamischen Einflüssen zu sehen sind, als „persönlichkeitsfremd“[15] und – wenn ja – als Kollektiv- oder Unternehmensgesteuert anzusehen sind.
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Hinsichtlich des erstgenannten Aspekts, der „Konformität des abweichenden Verhaltens“ im Unternehmen im Vergleich zu der „klassischen“ Makrokriminalität, gilt es die aktive Rolle des Staates zu sehen. Im engeren Sinne ist Makrokriminalität nämlich „staatsverstärkte Kriminalität“,[16] die gegen den eigenen Bürger gerichtet ist[17] und nicht lediglich Kriminalität zur Verteidigung irgendeiner Machtposition.[18] Im Unternehmenskontext erscheint also zumindest nicht zwingend, dass die Herausbildung von Gruppenemotionen und die bedingungslose Unterordnung gegenüber einer Befehlsgewalt, wie sie im makrokriminellen Kontext konstatiert wurde, typisch ist. Die Verweigerung bestimmter Anweisungen ist durchaus möglich und wird von der Rechtsordnung unterstützt bzw. sogar gefordert.[19] Wenn auch stabile rechtliche Rahmenbedingungen um einen „whistleblower Status“ immer noch erst im Entstehen begriffen sind, greifen dennoch arbeitsrechtliche Mechanismen zum Schutz der Unternehmensmitglieder ein.[20] Es ist jedenfalls fernliegend von einem Automatismus der Anweisungsumsetzung auszugehen, wie sie organisatorischen Machtapparaten auch nur ähnlich sein könnte. Das Unternehmen steht nicht als Ganzes außerhalb des Rechts, sondern hat sich einer grundsätzlich legalen Gewinnerzielungsabsicht verschrieben.[21]
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Gleichwohl – deviantes oder gar kriminelles Verhalten kann sich als normalisierte Organisationspraxis[22] etablieren, wie am Fall Siemens nochmals exemplifiziert[23] werden soll: Es wird inzwischen[24] davon ausgegangen, dass in den Jahren 2000–2006 Schmiergeldzahlungen von über 1,3 Milliarden Euro aus verschiedenen – international involvierten – Unternehmensbereichen[25] des Siemens Konzerns heraus über ein sogenanntes „Netz schwarzer Kassen“ gezahlt wurden. Dieses Netz geht zurück auf mehrere Schwarzgeldkonten, die Siemensmitarbeiter seit den 90er Jahren in Österreich unterhielten und die seit 2000 nicht mehr direkt durch die Konzernzentrale gespeist werden konnten. Es etablierte sich in der Folge ein mehrstufiges Geflecht von Scheinberatungsfirmen mit Sitz in den USA, Österreich und den Virgin Islands, über die große Summen aus dem Konzern auf schwarze Konten nach Liechtenstein und in die Schweiz transferiert werden konnten. Von diesen Konten wurden die Bestechungszahlungen in diverse Länder[26] gezahlt, um Aufträge zu erhalten.[27] Insbesondere unter dem Druck eines Verfahrens der US Securities and Exchange Commission (SEC) und der eingeleiteten Verfahren in Deutschland[28] erfolgten umfangreiche strukturelle und personelle Veränderungen. Den Auftakt deutscher Gerichtsverfahren bildeten die Verfahren gegen den Finanzvorstand Andreas Kley und den ehemaligen Mitarbeiter Horst Vigener (beide Siemens Power-Generation) vor dem Landgericht Darmstadt. Kley hatte die interne Autorisierung, Zahlungen in unbegrenzter Höhe anzuweisen; er setzte dies unter anderem in einem etablierten – dem Zentralvorstand nach eigenen Äußerungen nicht bekannten – System zur Zahlung von Bestechungsgeldern um. Vigener kümmerte sich um Verwaltung und Abwicklung der Zahlungen über diverse Nummernkonten bei liechtensteinischen Banken. Zudem existierte eine weitere verdeckte Kasse in der Schweiz, die noch von der durch die Siemens AG übernommenen früheren KWU AG stammte und von Kleys Vorgänger unmittelbar übernommen worden war. Konkreter Anknüpfungspunkt des Falles war die Auftragsvergabe des 1999 europaweit ausgeschriebenen Projekts „La Casella“ zur Lieferung von Gasturbinen durch die italienische Enelpower. Im Rahmen der Ausschreibung verlangte der Geschäftsführer einer Enel-Tochter einen Millionenbetrag als Gegenleistung für eine Einflussnahme auf die Vergabeentscheidung; Kley veranlasste in der Folge eine Zahlung in Höhe von 2,65 Millionen Euro an diesen Geschäftsführer und ein weiteres geschäftsführendes Mitglied des Verwaltungsrats der Enelpower, und zwar über das Kontengeflecht in Liechtenstein. Im Hinblick auf das Mitte 2000 durch Enelpower ausgeschriebene Projekt „Repowering“ erfolgte eine weitere Zahlung an die Genannten.[29] Kley wurde wegen Bestechung ausländischer Angestellter und Untreue zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe in Höhe von 400 000 Euro verurteilt. Der mitangeklagte Horst Vigener wurde wegen Beihilfe zur Bestechung zu neun Monaten auf Bewährung verurteilt. Zusätzlich wurde ein Verfall und Wertersatz in Höhe von 38 Millionen Euro verhängt.[30] Das Gericht, das als Tatsacheninstanz für die kriminologische Betrachtung von besonderem Wert ist, stellte hierbei fest, dass strafschärfend gegenüber Kley die „besonders hervorgehobene Vertrauensstellung in der S. AG als für die Umsetzung der Compliance-Richtlinien zuständiger Finanzvorstand“ zu berücksichtigen war und ihn diesbezüglich nicht entlasten konnte, dass „in gewissem Maße noch ein korruptionsfreundliches Klima geherrscht hat“. Desweiteren wies das Gericht deutlich darauf hin, dass die Möglichkeit, über das liechtensteinische Kontensystem verdeckte Leistungen auf den Weg zu geben, zahlreichen Mitarbeitern bekannt gewesen sein musste, denn trotz Bestehens einer Compliance-Richtlinie bedurfte es nur eines gegenüber Kley signalisierten Zuwendungsbedarfs, um für „nützliche Aufwendungen“ abbuchen zu lassen;