Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
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Für letzteren Aspekt spräche, dass das Unternehmen für den Mertonschen Innovationstyp wie geschaffen zu sein scheint. Kriminalität als Folge von überwältigenden Situationen im Unternehmen, in denen es um die Positionierung gegenüber anderen Mitarbeitern und die Unentbehrlichkeit der eigenen Stelle (die zugleich Lebensgrundlage ist) geht, ist keineswegs fernliegend. Sie erscheint sogar naheliegend, wenn man die Beobachtungen Ouchis, der das Bewusstsein gegenseitiger Abhängigkeit und die gemeinsamen Werte und Normen innerhalb des Unternehmens herausstellt, mit in Betracht zieht.[53] Er bezeichnet diese weitere Möglichkeit nicht-struktureller Koordination innerhalb des Unternehmen als den Clan, der durch ein hohes Maß an Homogenität, Selektion, Entkulturation und moralischer Selektion die internen Abläufe beeinflusst und eine „Organisationskultur“ schafft, die filtert, was akzeptiert wird. Damit bestätigt er letztlich das, was Sutherland in seiner Theorie differentieller Assoziationen entwickelte und zeigt auf, wie kollektive Prozesse in Unternehmen um sich greifen können. Die wirtschaftswissenschaftliche Forschung untersucht und beschreibt das Phänomen der Organisationskultur schon lange, liefert Ebenenmodelle[54] und weist vor allem nach, dass eine vollständige Institutionalisierung dieser Prozesse und unmittelbare Zuordnung zum Unternehmen – also nicht zu einer Gruppe von Mitarbeitern – außerordentlich voraussetzungsreich ist.
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Der aktuelle kriminologische und strafrechtliche Fokus wird allerdings vorwiegend auf die Reduzierung von Gelegenheiten und die Kontrolle durch unternehmensinterne Maßnahmen gerichtet, was darauf hindeutet, dass vor allem Organisationsprobleme bzw. die oft beklagte „organisierte Unverantwortlichkeit“ sowie in zunehmendem Maße komplexe und globalisierte Wirtschaftszusammenhänge als Ursache von Unternehmenskriminalität gewertet werden.[55] Es spricht aber auch einiges für die Ansicht,[56] dass der „Werteverfall“ als eine der Hauptursachen für Kriminalität im Unternehmen gelten muss. In diesem Fall wäre die kriminogene Situation mehr eine Charakter- oder Mentalitätsfrage als eine unternehmensgesteuerte. Schließlich muss mitunter zwischen den verschiedenen hierarchischen Ebenen innerhalb der Organisation Unternehmen differenziert werden. Wo auf „ausführenden“ Ebenen eine Abweichung gegenüber strafrechtlichen Normen auf eine Konformität mit den unternehmensinternen Regeln rückführbar sein kann, mag selbige Abweichung bei Führungskräften auf eine selbst zu verantwortende „Verschreibung hinsichtlich der Unternehmensziele“ zurückzuführen sein, die strafrechtlich anders zu bewerten wäre.[57] Insbesondere die von Freud[58] als zentrales Kriterium herausgearbeitete „soziale Angst“, welche den „Gewissensschwund als notwendige Folge“ hervorbringt und die Begehung von Straftaten ermöglicht, wenn die Erwartungen des unmittelbaren Umfelds auf die Begehung von Straftaten gerichtet sind und durch ihre Begehung die soziale Angst schwindet, legt nahe, zwischen den Positionen innerhalb des Unternehmens zu differenzieren. Ein weisungsgebundener Arbeitnehmer, der um seinen Arbeitsplatz fürchtet, wird womöglich wegen einer der „sozialen Angst“ vergleichbaren Motivation sanktionswürdige Handlungen begehen, während der Vorstandsvorsitzende diese Drucksituation durch die Vorgabe bestimmter Unternehmensziele selbst erzeugt haben kann.[59]
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Um weiter differenzieren zu können, ob Unternehmenskriminalität im Zusammenhang mit diesen gruppendynamischen Einflüssen als kollektivgesteuert anzusehen ist oder unternehmensgesteuert oder beides ist, wird im Folgenden die Hypothese der strukturellen Bedingtheit von Unternehmenskriminalität weiter verfolgt; zunächst durch einen genaueren Blick auf die in der strafrechtlichen Literatur inflationär verwandten Begriffe der organisierter Unverantwortlichkeit und der kriminellen Verbandsattitüde.
Anmerkungen
Jäger MschrKrim 1980, 358 (358 ff.); Rotsch Individuelle Haftung in Großunternehmen, S. 25.
Vgl. z. B. Jäger in Der Spiegel vom 13.8.1990, S. 34–46.
Vgl. mit Hinweis auf die sogenannte „Radbruch'sche Formel“ BGH NJW 1995, S. 2728 ff.
Vgl. zu der sich aus § 27 GrenzG ergebenden Pflicht, „Grenzdurchbrüche unter allen Umständen, notfalls auch durch Tötung des Flüchtenden, zu verhindern“ BGHSt 39, 1 ff. – z. B. in BGH NJW 1993, 141 ff.
Siehe hierzu wieder die hervorragende Darstellung von Rotsch Individuelle Haftung in Großunternehmen, S. 34 ff.
Jäger Makrokriminalität, S. 191
Rotsch Individuelle Haftung in Großunternehmen, S. 35
Vgl. zu den im Zusammenhang mit dem DDR-Machtstrukturen stehenden Überlegungen zu einer „mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft“, deren drei zentralen Voraussetzungen waren, dass der Apparat aus einer Vielzahl von Mitgliedern besteht, er hierarchisch