Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
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Die bisher genannten Beispiele können hier nicht wegweisend sein, gelang es in diesen Fällen ja offensichtlich nicht, sich so zu organisieren, dass eine strafrechtliche Haftung ganz entfällt. Ein oder mehrere Verantwortliche wurden benannt, wenn auch der Eindruck entstehen mag, dass es nicht „die Richtigen“ waren. Dieser Eindruck und auch die verbreitete Hypothese einer „organisierten Unverantwortlichkeit“ hängen womöglich weniger mit der Unternehmensstruktur, als vielmehr mit der Struktur des Strafrechts und Strafprozesses zusammen und der klassischen Herangehensweise, die stets „die“ konkrete und individuelle Pflichtverletzung des Mitarbeiters nachweisen will und damit eine Beweisführung belastet.[7]
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Auch spricht einiges für die Annahme einer Überforderung der Strafverfolgungsbehörden, die angesichts einer Fülle von Material, elektronischen Datenbeständen und potentiellen Zeugen Schwierigkeiten haben, eine ökonomische – und damit zumutbare[8] – Beweisführung zu gewährleisten. Angesichts umfangreicher Dokumentationspflichten und dem eigenen Interesse des Unternehmens an transparenter Organisation von Arbeitsprozessen wäre zumindest anzunehmen, dass die Beweisführung durch Urkundsbeweise gewährleistet sein dürfte.[9] Die noch in den sechziger Jahren festgestellte Spurenlosigkeit[10] der Wirtschaftskriminalität überzeugt heute also nicht mehr als allgemeiner Grundsatz. Angesichts einer immer höheren Flexibilität der Arbeitnehmer (Stichwort „job hopping“) ist Schriftlichkeit in jeder Form ein essentieller Bestandteil einer Organisation, die auf Kontinuierlichkeit ausgerichtet ist. Gleichwohl liegt nahe, dass sensible Bereiche, wie Kartellbildung oder Korruption, von informellen und mündlichen Vereinbarungen leben und nicht von deren schriftlicher Fixierung.
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Und dennoch: Die stets betonten Beweisführungsprobleme, die sich auch zugunsten des Unternehmens auswirken mögen, sind zumindest zu relativieren. Manche dieser Schwierigkeiten sind nicht unmittelbar mit der Unternehmensstruktur verbunden, sondern ergeben sich schon ratione materiae: Im Bereich des Umweltstrafrechts geht es beispielsweise um Emissionen, deren Verbreitung nicht stets – wie im Chemie-Störfall[11] der Hoechst AG – als gelber Regen sichtbar nachweisbar ist; oder es geht um Gesundheitsschäden im Zusammenhang mit fehlerhaften Produkten, die zu einer Reihe von Kausalitätsproblemen führen.[12]
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Andere Beweisprobleme unterscheiden sich nicht kategorial von den Schwierigkeiten, die im klassischen Strafrecht im Bereich des Nachweises der subjektiven Tatseite existieren. Die These, dass hierarchische Systeme und Informationswege kaum mehr der Wirklichkeit entsprechen, als schwerfällig empfunden und durch horizontalen Informationsaustausch umgangen werden,[13] liegt nahe und wird weiter untersucht werden. Selbst wenn die Etablierung informeller Informationssysteme plausibel ist und hierdurch eine Rekonstruktion im Strafprozess schwieriger wird,[14] ist dies für das Strafrecht zumindest kein herausragend außergewöhnliches Phänomen. Luhmann folgerte aus ähnlichen Beobachtungen, dass an den „Klippen der Arbeitsteilung“ die klassischen Verantwortungsprinzipien zerschellen.[15] Diese Überlegung wird in den strafrechtsdogmatischen Überlegungen zu verifizieren sein. Die beschriebenen und mit arbeitsteiligen Produktionsprozessen eng verbundenen Beweisschwierigkeiten bedeuten jedoch nicht, dass Unternehmen eine Unverantwortlichkeit organisieren. Wird – wie hier – von dem legalen Unternehmenszweck der produktionsbasierten Profitorientierung ausgegangen, dann organisieren sich Unternehmen nicht bewusst in Richtung einer Verantwortungsdispersion; sie organisieren sich stets aufs Neue im Hinblick auf eine Effektivitätssteigerung, die dem Unternehmenszweck dient. Natürlich folgt hieraus auch eine Verantwortungsdiffusion, ebenso naheliegend droht Becks Risikogesellschaft eine „organisierte Unverantwortlichkeit“, wenn es keinen Ort für Verantwortungsdiskurse mehr gibt. Beides führt womöglich das Strafrecht an den Rand seiner Möglichkeiten, weil es sich um komplexe Probleme handelt – beide „Risiken“ haben allerdings weniger Gemeinsamkeiten, als offenbar gemeinhin angenommen wird.[16]
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Bleibt noch die „kriminelle Verbandsattitüde“,[17] die eine Kombination von unzulänglicher formeller Organisation und ungenügender Rechtstreue der Mitglieder meint und letztlich deliktsfördernde Verhältnisse im Unternehmen unterstellt, mit der Folge, dass jenes „wie ein Rückfalltäter“ immer wieder Quelle für die Verletzung von Rechtsgütern ist.[18] Neben der besonderen Tatmotivation, die zu ungenügender Rechtstreue führt und bereits untersucht wurde, ist eine günstige Gelegenheit[19] – die zunächst nicht mehr als eine physikalisch beschreibbare Ausgangslage darstellt – Ausgangspunkt für die Begehung einer Wirtschaftsstraftat.[20] Die „Gelegenheit“ wird mitunter als durch das Unternehmen beeinflussbare Größe gewertet,[21] sodass im Umkehrschluss die „Tatgelegenheit“ ein Hinweis auf einen kriminogenen Aspekt des Unternehmens darstellen könnte.[22] Spiegelbildlich zur Tatgelegenheit ist ein Kontext, in dem die Folgen der Tat leicht verwischt werden können, ein der Wirtschaftskriminalität zuträglicher Aspekt.
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Gelegenheit macht Diebe und dies – wie Schwind[23] hervorhebt – nicht nur in Slums, sondern auch im wirtschaftskriminellen Bereich. Wie bereits mehrfach erwähnt, bedarf die unter Anomiedruck stehende Person auch des Zugangs zu illegitimen Mitteln, um sich abweichend zu verhalten. Ansonsten würde unterstellt, dass „illegitime Mittel frei verfügbar sind – so, als wenn der Einzelne, nachdem er zum Schluss gekommen ist, dass man auf legitime Weise zu nichts kommt, sich einfach den illegitimen Mitteln zuwendet, die leicht greifbar zur Verfügung stehen, unabhängig von der Stellung innerhalb der sozialen Struktur“.[24]Cloward und Ohlin entwickelten aus dieser Überlegung die Theorie der differentiellen Gelegenheiten, die Elemente der Anomietheorie, der Subkulturtheorie und der Theorie der differentiellen Kontakte enthält. Der nach dieser Auffassung ebenso essentielle Zugang zu legitimen Mitteln ist in Anbetracht der Befunde zu den Wirtschaftsstraftätern[25] eine weniger naheliegende Kriminalitätsursache als der Zugang zu illegitimen Mitteln. Diesbezüglich ist zudem zwischen Führungskräften und den übrigen Mitarbeitern zu differenzieren:
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Im Hinblick auf den Gelegenheitskontext, insbesondere den Tatzugang, scheinen Führungskräfte privilegiert. Dies hat schon mit dem von Terstegen herausgearbeiteten Merkmal des Vertrauensvorschusses zu tun, der mit herausgehobenen Positionen einhergeht: Eine solche, mit Vertrauen – und daher mit Einflussmöglichkeiten – ausgestattete Position zum eigenen Vorteil zu nutzen wird nicht jedem geschenkt. Diese Einflussmöglichkeit ist aber der entscheidende Zugang zur besonders vorteilsträchtigen, kriminellen Handlung.[26] Auch die Schwierigkeit der Entdeckung und Überführung – das „schwer Erfassbare“ der Wirtschaftsdelikte als geradezu typischem Merkmal – hängt unmittelbar damit zusammen. Durch Macht und Einfluss an den entscheidenden Stellen lassen sich Tatvorgänge verdunkeln und ausnahmsweise Offensichtliches leichter rechtfertigen. Dies belegen die empirischen Erkenntnisse im Bereich der Wirtschaftskriminalität: Die Tendenz der ungenutzten strafrechtlichen Instrumente tritt verstärkt auf der Ebene des Topmanagements auf und setzt sich auch auf der Ebene der geringen Strafverfolgung fort.[27] Die Reaktionen auf die Kriminalität fallen in der Regel arbeitsrechtlich aus und richten sich aus Gründen wie den befürchteten Imageschäden oder dem Reputationsverlust seltener gegen Täter aus dem Topmanagement als gegen andere Täter.
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