Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
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Um es am Beispiel des Mannesmann-Verfahrens[28] zu verdeutlichen: eine derart leichtgängige Verknüpfung eines so komplexen Deals – mit 180 Milliarden Euro war der „Mannesmann-Vodafone-Deal“ vor AOL/Time Warner (rund 150 Mrd Euro) die teuerste Firmenübernahme überhaupt – mit Anerkennungsprämien[29] für die ehemals Angeklagten[30] in einer 30-minütigen Sitzung ist eine Situation, die nur in einem Kontrollvakuum entstehen kann. Der größte Mannesmann-Minderheitenaktionär Hutchinson Whampoa[31] drängte am 2.2.2000 die Mannesmann-Spitze einer Übernahme zuzustimmen und bot Esser auch für den Fall der Übernahme eine Prämie aufgrund der großen Wertsteigerung der Aktien an. Für jede Mannesmannaktie wurden 58,9646 Vodafone-Aktien ausgegeben; durch die Übernahme verdiente alleine Hutchinson Whampoa ca. 5 Milliarden Euro. Die strafrechtlich relevanten Beschlüsse,[32] die die Höhe der Anerkennungsprämien beinhalteten, wurden in einer Weise getroffen, die der Wahrung des Scheins durch einen pro forma Beschluss zumindest sehr nahe kommt: Essers Beschlussvorlage wurde von ihm selbst formuliert – Funk und Ackermann stimmten zu. Darauf folgte der Wunsch Funks, als früherer Vorstandsvorsitzender ebenfalls eine Anerkennungsprämie zu erhalten. Die Einigung auf 3 Millionen britische Pfund erfolgte umgehend im Anschluss und unter telefonischer Hinzuschaltung von Zwickel, der mit den Anerkennungsprämien „keine Probleme habe“. Da der Beschluss vom 4.2.2000 bezüglich der Anerkennungsprämie Funks aufgrund der Selbstbeteiligung Funks an der Abstimmung nicht durchging, wurde der Beschluss am 17.4.2000, ohne Anwesenheit Funks, wiederholt.[33]
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Das Unternehmen war hier in mehrfacher Hinsicht conditio sine qua non: schon die privilegierte Stellung des Vorstandsvorsitzenden, eine Übernahme zu beschließen, die enorme Auswirkungen auf Wirtschaft und Kapitalmarkt hat, ist nur mittels Unternehmen – den zentralen Organisationseinheiten des Wirtschaftslebens – denkbar. Eine Transaktion, die dem größten Minderheitenaktionär, der zudem selbst die Anerkennungsprämie anbieten kann, einen enormen Gewinn beschert, ist ebenfalls von den privilegierten Positionen im Unternehmen abhängig. Schließlich steht der konkrete Vorgang der Beschlussfassung, der weder eine zusätzliche Kontrolle der Angemessenheit noch eine – den Prozess verlangsamende – Komponente enthielt oder zu einer transparenten Kriterienbestimmung gezwungen hätte, in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Unternehmen. Das als „checks and balances“-System gedachte Zusammenspiel von Aufsichts- und Kontrollgremien[34] gegenüber den Vorständen und Geschäftsführern hat in diesem Fall versagt. Im Vordergrund steht aber gleichwohl eine Gruppe von „respektablen Geschäftsleuten“[35], die in einer (überwältigenden) Situation der Tatgelegenheit zu ihrem eigenen Vorteil handelten. Es handelte sich hier also um kollektives Handeln zum eigenen Vorteil – um Handlungen, die als white collar-Kriminalität bezeichnet werden können.
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Die Kernfrage lautet nun: Handelt es sich (schon) hier um eine Kombination von unzulänglicher formeller Organisation und ungenügender Rechtstreue der Mitglieder? Jakobs fasste die kriminogene Situation im Fall Mannesmann pointiert wie folgt: „den Aktionären ging es sehr gut, dem Unternehmen gut, und es stand zu erwarten, dass sich demnächst niemand mehr um die einzelnen Modalitäten der Überleitung kümmern würde. Eine solche Lage mag dazu verführen, manches nicht so genau zu nehmen“;[36] beschrieb er damit aber schon bzw. auch Unternehmenskriminalität?
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Legt man das ebenfalls etablierte Kriterium des Handelns zu Gunsten des Unternehmens zugrunde, müsste die Frage bejaht werden. Die durch die Absprachen bedingte Abwehrhaltung von Mannesmann gegenüber einem „freundlichen Übernahmeangebot“ durch Vodafone und den immer wieder scheiternden Verhandlungen mit Vivendi bedeutete nämlich einen deutlichen Kursanstieg der Mannesmannaktien; die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone Airtouch für 190 Milliarden Euro in Aktien war für die Aktionäre also sehr profitabel. Andererseits gab es das Unternehmen Mannesmann nach der Übernahme bald nicht mehr; mit entsprechenden Konsequenzen für die Arbeitnehmer. Entscheidender: Die formelle Organisation ermöglichte die Tat und das Unternehmen war conditio sine qua non. Die fraglichen Taten waren in eine normale Geschäftshandlung des Unternehmens eingekleidet, ließen sich womöglich aber eher mit der Sozialstruktur[37] denn mit der Unternehmensstruktur erklären.
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Induktive Schlussfolgerungen erlaubt erst ein Abgleich mit dem zuvor dargestellten Fall Siemens: Auch im Fall Siemens konnten deviante oder illegale Abläufe in übliche Unternehmensabläufe integriert werden; hinzu traten dort aber weitere Besonderheiten. Insbesondere die soziologische Analyse[38] des Falles Siemens verdeutlicht dies. Schon die veröffentlichten Details[39] zeigen nämlich, dass nicht einzelne Mitarbeiter sich an korruptiven Geschäften beteiligten, sondern das besagte „Netz schwarzer Kassen“ oder in Leyendeckers Worten das „System Siemens“[40] eine weitaus größere Dimension aufwies. Es spricht sogar vieles dafür, dass Korruption im Sinne von Ashforth und Anand in Organisationsstrukturen eingebettet ist und infolgedessen von den Mitgliedern „als zulässiges oder gar wünschenswertes Verhalten internalisiert und an nachkommende Generationen weitergereicht“[41] wurde.[42] Es handelte sich gerade nicht um Fälle singulärer Korruption, sondern um Formen kollektiv-korrupten Handelns, das die Kooperation von Akteuren als Täter voraussetzt und zudem impliziert, dass sie das korrupte Handeln durch soziale Beziehung auf Gegenseitigkeit abstützen.[43] Die kriminogene Wirkung des Unternehmens könnte dann bejaht werden, wenn die korrupten Handlungen nicht nur institutionalisiert wurden, d. h. routinemäßig angewendet werden und eine entsprechende Rationalisierung durch die genannten Neutralisierungsmechanismen durchgreift, sondern zudem eine Sozialisation zu bejahen ist, d. h. diese Geschäftspraxis auch an neue Unternehmensmitglieder weitergegeben wird. Dies war auch im Fall Siemens zu bejahen, wo beispielsweise das Schweizer System schwarzer Kassen, das noch von der durch die Siemens AG übernommenen früheren KWU AG stammte, von Kleys Vorgänger unmittelbar übernommen worden war. Es hing nicht mehr von einer aktuellen Entscheidung eines Mitarbeiters ab, den Geschäftserfolg mittels Schmiergeldern zu sichern. Die Schmiergeldpraxis war vielmehr arbeitsteilig organisiert und durch die Verwendung von Formularen[44] routinisiert. Dies gelang nicht zuletzt deswegen leicht, weil die Bestechung ausländischer Entscheidungsträger nach deutschem Strafrecht bis 1997 nicht pönalisiert war, wenngleich sie in den Zielländern meist gegen das Gesetz verstieß und somit geheim gehalten werden musste. Doch auch nach der Einführung der Strafbarkeit der Auslandsbestechung waren die Neutralisierungsmechanismen nicht ohne weiteres aufzubrechen, wie die Aussage Siekaczek zeigt: „Wir haben es gelesen und abgeheftet. Wir dachten, wenn mal was passiert, wird es sowieso Schutz geben.“[45] Statt einer Veränderung der Normverfolgungsbereitschaft wurden „Provisionen“ nun „Beraterverträge“ genannt und auf buchhalterisch anspruchsvollerem Niveau verwaltet. Dieses „System“ wurde schließlich – und auch hier ist das Beispiel Siemens besonders anschaulich – nicht „von ein paar randständigen Kriminellen, sondern von lauter bewährten Mitarbeitern aus der Mitte des Unternehmens“[46] getragen. Die „Siemensianer“ fingen klein an und arbeiteten sich durch das sogenannte „Kaminsystem“ nach oben, was nach einigen journalistischen Darstellungen an Beschreibungen der Makrokriminalität erinnert: „fast alle späteren Vorstände [fingen] so bei Siemens an, ganz klein. Sie fügten sich ein, fühlten sich ein. Der typische Anlass für Zug im Kamin war dann die Pensionierung des Vorgängers. Man übernahm den Stuhl, mit dem Stuhl die Aufgaben und mit den Aufgaben auch die Spezialaufgabe. (...) Deshalb sind die, die es erwischt hat, auch nicht