Frauenstimmrecht. Brigitte Studer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Frauenstimmrecht - Brigitte Studer страница 21
Die beinahe hundertjährige Schweizer Debatte über das Frauenstimmrecht scheint auf den ersten Blick ein Gewusel von Argumenten, deren Vielfalt über Raum und Zeit kaum fassbar ist. Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass sich die Auseinandersetzung im Kern um die drei Pole «Geschlecht – Staat – Macht» drehte. Die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen waren sich uneinig, ob das Diktum «Der Staat ist der Mann» des Staatsrechtlers Johann Caspar Bluntschli (1808–1881) im 20. Jahrhundert noch Gültigkeit hatte oder nicht, und was es bedeutete, wenn sich die traditionelle Geschlechterordnung der bürgerlichen Gesellschaft modifizierte. Denn wie eine Gegnerin ausrief: «Die Politik ist dasjenige Gebiet, das die Frau am meisten ihrer wahren Lebensaufgaben entfremden kann.»169
Auf dem Spiel stand die gesellschaftliche Arbeits- und Sphärenteilung zwischen Frau und Mann, Privatheit und Öffentlichkeit, Familie und Staat. Mitverhandelt wurden jeweils Gesellschaftsentwürfe, Paarbeziehungen, nationale Selbstbilder, das helvetische politische System, Gerechtigkeitsvorstellungen, Stadt-Land-Konflikte, weibliche Lebensentwürfe sowie nicht zuletzt Unsicherheiten und Ängste, die durch den gesellschaftlichen Wandel oder die vielfältigen Phänomene hervorgerufen wurden, die mit der Moderne in Verbindung gebracht werden können. Es ging um Werte und Weltanschauungen, aber auch um Emotionen und Interessen, um den Zugang zu Ressourcen und letztlich um Macht, oder anders formuliert, um die männliche Herrschaft – Inhalte, die jedoch im politischen Alltag meist taktisch verkleidet wurden und deren Konstanz und Wandel es zu erfassen gilt.
Zur Strukturierung der Argumente dienen folgende drei Leitkategorien:
1)Geschlechterordnung (geschlechtsspezifische Aufgabenzuteilungen und Geschlechtscharaktere),
2)Staatskonzeption (Staatsaufbau, Demokratie und politische Repräsentation) und
3)ethisch-juristische Prinzipien (Macht und Recht).
–Unter die Leitkategorie Geschlechterordnung fallen die Argumente, die sich affirmativ oder kritisch auf anthropologische und soziostrukturelle Aspekte des Verhältnisses von Frau und Mann beziehen, in erster Linie die vermeintlich natürliche Rolle der Frau als Hausfrau, Mutter und Gattin und ihre daraus abgeleiteten gesellschaftlichen Pflichten im Privaten. Je nach Meinung lag der Cursor näher bei Gleichheit oder bei Differenz, oder genauer: bei Differenzierung. Dazu zählen auch Argumente, die sich an die in der bürgerlichen Gesellschaft den Geschlechtern jeweils zugeschriebenen Charaktere anlehnen: den Männern das rationale Denken, den Frauen das emotionale Denken und die daraus abgeleiteten vermeintlichen Fähigkeiten, Interessen und Wünsche.
–Unter der Leitkategorie Staatskonzeption werden sprachliche Interventionen berücksichtigt, die sich auf das politische System der Schweiz beziehen. Das betrifft in erster Linie die Definition der Demokratie respektive des Souveräns, dann aber auch die Auseinandersetzungen über den Impact von Gestaltungsprinzipien, Regulativen und Praktiken des Schweizer politischen Systems wie Föderalismus, Referendum, direkte Demokratie oder Landsgemeinde auf die Einführung des Frauenstimmrechts.
–Mit der Leitkategorie ethisch-juristische Prinzipien werden Stellungnahmen erfasst, die sich auf die Idee der Gerechtigkeit beziehen, auf Menschenrechte und auf Würde sowie auf das Prinzip Emanzipation.
Ergänzt werden die Leitkategorien durch die folgenden transversalen, heuristischen Kategorien:
–historische Argumente (Wandel versus Tradition);
–funktional-praktische (politischer Nutzen der weiblichen Differenz versus Gefahren der weiblichen politischen Partizipation);
–ökonomische (weibliche Leistungen / Beteiligung am Arbeitsmarkt, die mit der Gewährung des Frauenstimmrechts anerkannt respektive «entlohnt» oder «belohnt» werden, Zusammenhang zwischen Pflichten und Rechten versus Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt);
–komparatistische (Vergleich mit dem Ausland und mit anderen Kantonen);
–konjunkturell-taktische (argumentativer Bezug zur aktuellen Politik, wie etwa das Heraufbeschwören der Gefahr des Kommunismus im Kalten Krieg);
–machtpolitische (Hinweis auf politische Kräfteverhältnisse, politisches Gewicht der Frauen(stimmrechts)vereine oder der Frauen versus Macht und Stellung der Männer);
–dialektische (Entkräften der gegnerischen Argumente).170
Die Argumente bezogen sich oft auf mehrere Aspekte, die miteinander kombiniert wurden. Häufig geschah dies wie im folgenden Beispiel mit Bezug sowohl auf die Geschlechterordnung als auch auf die Schweizer Staatsordnung, die mit anderen Ländern als