Frauenstimmrecht. Brigitte Studer
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Späte Auflösung der protestantischen Dominanz und vermehrtes parteipolitisches Engagement
Betrachtet man die Präsidentinnen des SVF, bestätigt sich die elitäre Prägung der nationalen Leitungsebene auch über die Jahre. Von den neun Personen, die zwischen 1909 und 1971 dem SVF vorstanden, stammte nur die letzte aus einfachen Verhältnissen: Gertrude Girard-Montet (1913–1989), die 1968 das Präsidium des nationalen Verbands übernahm, war die Tochter eines Kaminfegers. Durch ihren Mann, Inhaber eines Malereigeschäfts, war sie in den gewerblichen Mittelstand aufgestiegen. Im Unterschied zu den anderen Präsidentinnen fehlte ihr hingegen ein akademisches Umfeld.157 Gertrud Heinzelmann (1914–1999), die das Präsidium 1959/60 nur kurz innehatte, kam aus einer mittelständischen Familie; ihr Vater war Kaufmann. Sie konnte, anders als Girard-Montet, jedoch studieren und arbeitete als promovierte Anwältin. Auch ihre Nachfolgerin von 1960 bis 1968, Lotti Ruckstuhl (1901–1988), war promovierte Anwältin, sie war jedoch bereits in einer akademischen Familie aufgewachsen. Sowohl ihr Vater wie auch ihr Ehemann waren Ärzte.158 Aus welchem sozialen Milieu die auf Auguste de Morsier folgende erste Präsidentin, Louise von Arx-Lack (1876–1945) stammte, ist unbekannt, doch heiratete sie einen Professor für deutsche und französische Sprache, der am Kantonalen Technikum von Winterthur lehrte. Politisch war sie wie de Morsiers Mutter in der Sittlichkeitsbewegung im Kampf gegen den Mädchenhandel aktiv gewesen. Sämtliche vier Präsidentinnen zwischen 1914 und 1959 hatten einen grossbürgerlichen respektive akademischen Familienhintergrund. Neben der erwähnten Emilie Gourd galt das für Annie Leuch-Reineck (1880–1978), die mit einem Bundesrichter verheiratet war und selbst ein Doktorat in Mathematik erworben hatte, sowie für Elisabeth Vischer-Alioth (1892–1963), Tochter eines Basler Maschinenfabrikanten und früh verwitwete Frau eines Juristen aus dem Basler «Daig». Vor ihrer Heirat hatte sie eine Ausbildung an der Sozialen Frauenschule in Berlin absolviert und nebenamtlich für die Pro Juventute gearbeitet.159 Alix Choisy-Necker (1902–1979) war die Tochter eines Genfer Bankiers und einer Patrizierin.
Von der Konfession her waren alle reformiert. Die Katholikin Lotti Ruckstuhl war eine Ausnahme. Ihre Wahl zur Präsidentin in den 1960er-Jahren zeigt, dass sich die dem Frauenstimmrecht positiv gesinnten Kreise ausgeweitet hatten. Dieses Faktum zeigte sich im Übrigen auch in der Zusammensetzung der 1957 gegründeten Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenverbände für die politischen Rechte der Frau, die unter ihren 38 Frauenorganisationen und 15 kantonalen Frauenzentralen drei parteipolitische Frauengruppen – der SP, des LdU und der FDP – sowie den der Katholisch-Konservativen Partei nahestehenden SKF zählten. Sowohl die Präsidentin der Arbeitsgemeinschaft, Hanni Schärer-Rohrer (1904–1979), Präsidentin der FDP-Frauengruppe Schweiz, als auch die beiden Vize-Präsidentinnen, die Agronomin Mascha Oettli (1908–1997) als Zentralsekretärin der SP sowie der Sozialdemokratischen Frauengruppen der Schweiz, und Lotti Ruckstuhl für den SKF vertraten eine politische Partei.160
Konstanz und Wandel über die Zeit
Eine Längsschnittstudie der Berner Frauenorganisationen, basierend auf 200 Namen von Aktivistinnen des Frauenstimmrechtsvereins Bern161 und des BSF, von denen für eine kollektivbiografische Auswertung allerdings nur von 72 Namen genügend Daten zur Verfügung standen, bestätigt die gezeigte Dominanz einer Herkunft aus der oberen Mittelschicht oder der Oberschicht für die Zeit vor 1945 nicht nur von Vorstandsmitgliedern, sondern auch von einem grossen Teil der Vereinsmitglieder.162 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg traten einige Frauen auf den Plan, die aus einfachen Verhältnissen oder der Mittelschicht stammten.163 Bis dahin hatte das nur für Emma Graf (1865–1926) als Tochter einer Wirtin und eines kaufmännischen Angestellten gegolten. Für den gesamten Untersuchungszeitraum zwischen 1916/17 und 1968 finden sich im familiären Umfeld vieler Frauen einflussreiche oder gesellschaftlich anerkannte Berufe wie Arzt, Direktor, Seminarlehrer, Jurist, Oberförster und Politiker.
Die Zugehörigkeit zu einer höheren Gesellschaftsschicht kann sich auch an den Freizeitbeschäftigungen an den Stichdaten 1916/17 und 1930 ablesen, denn einige der Berner Frauen gehörten zu den ersten Automobilistinnen oder Bergskifahrerinnen. Unter den Frauenrechtlerinnen selbst finden sich überdurchschnittlich viele Akademikerinnen. Im Stichjahr 1916/17 trugen 25 Prozent der erfassten Frauen einen Doktortitel (während es im Jahr 1908 noch keine war), 1930 stieg deren Anteil sogar auf fast 38 Prozent, um sich an den restlichen Stichdaten 1945, 1956 und 1968 bei einem Drittel einzupendeln. Wie in den anderen in dieser Studie berücksichtigten Kantonen, aber vielleicht noch ausgeprägter, erweist sich in Bern der Anteil der Lehrerinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als dominant. 1908 und 1916/17 war der Lehrberuf sogar der einzige, der sich für die Aktivistinnen finden lässt. Ab 1930 erweiterte sich das Berufsspektrum, während der Anteil der Lehrerinnen auf rund dreissig Prozent sank. 1945 waren es sogar nur noch etwa ein Fünftel, um danach auf etwa ein Achtel zu schrumpfen. Auffällig ist nach 1945 der rapide Zuwachs der Juristinnen. Befanden sich 1945 Ärztinnen, Geisteswissenschaftlerinnen und Juristinnen zahlenmässig noch ungefähr im Gleichgewicht, wuchs der Anteil Letzterer allmählich, und zwar ganz deutlich ab dem Stichjahr 1956. Dass ab 1959 und in den 1960er-Jahren zwei Juristinnen den SVF führten, darf zweifellos als Hinweis auf den wachsenden Einfluss von Rechtsfragen in der Auseinandersetzung um das Frauenstimmrecht gelesen werden. Dazu kam, dass ab 1923 die Anwaltsprofession gesamtschweizerisch auch den Frauen zugänglich war.164
Was den Zivilstand angeht, waren die Berner Aktivistinnen lange Zeit mehrheitlich ledig. Doch schon 1930 war ein gutes Drittel verheiratet, ein Anteil, der kontinuierlich stieg. 1945 traf dies bereits auf etwas mehr als die Hälfte zu. Ab 1956 pendelte sich der Anteil der verheirateten Frauenrechtlerinnen bei sechzig Prozent ein. Soweit dies aus den hier verwendeten Daten ersichtlich ist, erhöhte sich das Durchschnittsalter nach dem Zweiten Weltkrieg: Drehte sich dieses zuvor um die 40, erreichte es 1945 ungefähr 50 und 1956 rund 54 Jahre. Da altgediente Kämpferinnen wohl bekannter und etablierter waren, mag sich hier ein Bias ergeben. Anhand von Beispielen lässt sich aber zeigen, dass etliche prominente Aktivistinnen für das Frauenstimmrecht sehr lange engagiert blieben. Dies trifft etwa für die Berner Bankierstochter, promovierte Lehrerin und Journalistin Agnes Debrit-Vogel (1892–1974) und die Sekundarschullehrerin Helene Stucki (1889–1988) zu, die von den 1910er- bis in die 1970er-Jahre aktiv blieben. In den 1930er-Jahren gesellten sich die promovierte Juristin Helene Thalmann-Antenen (1906–1976) und ab Ende des Jahrzehnts die an der Universität ausgebildete Journalistin Gerda Stocker-Meyer (1912–1997) hinzu. 1942 trat die Lehrerin und Juristin Marie Boehlen, die sich ab 1945 auch in der SP engagierte, dem Berner Stimmrechtsverein bei.165 In den 1950er-Jahren kam als weitere einflussreiche Persönlichkeit Marthe Gosteli (1917–2017) hinzu, die von 1964 bis 1968 den Berner Stimmrechtsverein und 1970/71 die Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenvereine für die politischen Rechte der Frau präsidierte. Sämtliche Genannten blieben mindestens bis 1971 aktiv.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei den Gegnerinnen
Abschliessend richtet sich der Blick nun auf die Gegnerinnen des Frauenstimmrechts, wobei die Zusammensetzung des Zentralvorstands des Bundes der Schweizerinnen gegen das Frauenstimmrecht zwischen 1959 und 1965 mein Analysematerial darstellt. Als erster Unterschied zum SVF fällt die räumliche Verortung auf. Für den hier behandelten Zeitrahmen lag der Schwerpunkt der im Zentralvorstand repräsentierten Sektionen im Vergleich zum SVF geografisch im östlichen und zentralen Teil der Schweiz. Die Vorstandsmitglieder kamen nämlich aus den Kantonen Bern, Luzern, Zürich, Thurgau, Obwalden, Appenzell Innerrhoden und Aargau, wobei auch eine Frau aus Basel und eine andere aus Genf anwesend waren, die aber vorwiegend sich selbst repräsentierten. Eine nennenswerte Zahl organisierter Gegnerinnen gab es offenbar nur in den Kantonen Bern, Zürich und Thurgau.166 Nach dem Ersten Weltkrieg war das noch anders