Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens. Wolfram Lutterer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens - Wolfram Lutterer страница 11
So weit geht Descartes zwar nicht, philosophisch unbefriedigend bleibt seine Konstruktion dennoch: Eines der Probleme nämlich, welches Descartes zwar wortreich umkreist, jedoch bei Weitem nicht löst, besteht darin, dass all seine Aussagen über den Geist und über die Seele sich nur mithilfe von Sinnen vornehmen lassen. Wir können nun einmal seine Worte nur über den trügerischen Weg unserer Sinne lesen … Sein früher Reduktionismus krankt somit an seiner forcierten Ignoranz gegenüber der Verwobenheit der Welt unserer Wahrnehmung.
Besonders deutlich zeigt sich die Malaise dieses Denkens in der berühmten Zuspitzung, die Descartes selbst in Gestalt seines «Ich denke, also bin ich« (»Cogito, ergo sum«) vornimmt.30 Diese Formel ist es, die für ihn letztendlich das Fundament einer nicht weiter hinterfragbaren Einsicht einnimmt. Allerdings handelt es sich bei dieser scheinbar unhinterfragbaren Wahrheit um einen klassischen sogenannten Kategorienfehler, also um eine unzulässige Vermengung verschiedener Aussageebenen.* Denn: Jenes »Ich bin« beinhaltet bereits ein Sein, und zwar ein körperliches Sein. Descartes kann schlichtweg keine Form des Denkens behaupten, ohne eine Aussage mit Bezug auf unsere Sinne und somit auf unsere Körperlichkeit zu machen. Er sagt somit letztlich nicht mehr, als »Ich bin Geist, also bin ich Körper« – ein logischer Schluss, den er im Rahmen seiner dualistischen Philosophie jedoch von Beginn an ablehnt. Er endet somit genau da, wovor er sich durch seinen verzweifelten Denkakt schützen wollte. Würde man derartige Kategorienfehler vermeiden wollen, so wäre eine logisch korrekte, wenn auch hinreichend belanglose Wendung: »Ich esse, also bin ich.«
Ich habe dies deswegen in dieser relativen Ausführlichkeit auseinandergesetzt, weil der Dualismus von Körper und Geist, den Descartes ausbreitet, bis heute in verschiedenster Form fortwirkt. Man mag da nur staunen: Jedwedes Denken kann sich ausschließlich in den verschiedenen Formen der Kommunikation – also der Äußerlichkeit – manifestieren, und doch soll es in irgendeiner grundsätzlichen Weise unverbunden sein mit dem eigenen Leib. Descartes eröffnet damit jedenfalls eine dritte Ahnengalerie, und zwar die der antisystemischen Denker.
Jener Dualismus, den Descartes entwickelte, erscheint jedoch mancherorts bis heute offenbar als eine äußerst attraktive Idee, denn sonst hätte er sich nicht als derart wirkmächtig erwiesen. Doch wie könnte eine systemische Positionierung zu all diesem aussehen? So weit, so vorläufig: Systemische Herangehensweisen geben sich schlichtweg nicht damit zufrieden, Dinge bloß einfach so auseinanderzunehmen, wie beispielsweise ein Kleinkind eine Küchenschublade ausräumt. Für einen Systemiker wäre es wichtig, die Beziehungen zwischen dem, was wir »Körper« benennen, zu dem, was wir als »Geist« wahrnehmen, weiter zu erkunden und eben nicht nur auf Abgrenzungen abzuzielen. Das ist es, was den Systemiker vom Reduktionisten trennt: das Interesse am Verstehen der Durchdringung von Materie und Geist, ohne von einem Primat von einem der beiden auszugehen. Neugier anstelle von Dogma.
Früher Konstruktivismus I (Giambattista Vico)
Ernst von Glasersfeld, Begründer des radikalen Konstruktivismus, bezeichnet Giambattista Vico (1668–1774) als den ersten, der »unzweideutig behauptet hat, dass unser rationales Wissen von uns selbst konstruiert wird«31. Laut Vico werden wir durch unsere Erkenntnisfähigkeit zu den »Machern der Wahrheiten, die wir wissen, weil wir sie selbst zusammensetzen«32. In diesem Sinne kann Vico tatsächlich zumindest als moderner Ahnvater des Konstruktivismus gelten, obwohl sein Werk damals offenbar nur wenig Resonanz gefunden hat. Gelebt hat Vico im süditalienischen Neapel.
Als Vicos Hauptwerk gilt die Neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Darin formuliert er bereits eine teils sehr klare konstruktivistische Perspektive und folgt damit zumindest programmatisch einer Position, die wir zuvor bereits bei Protagoras kennengelernt haben. Schon zu Beginn seiner Argumentation erklärt er, dass sich der Mensch »selbst zur Richtschnur des Weltalls mache« und sich dementsprechend auch zu irren vermag. Des Weiteren argumentiert er, dass wir bisher Unbekanntes oftmals einfach anhand bereits »bekannter und gegenwärtiger Dinge« beurteilten33 und sich somit unser Erkennen dann weder aus großen Prinzipien ableitet noch aus intensiver Beobachtung, sondern einfach nur aus schneller, schlichter Assoziation. Hier zeigt sich ein früher Vorbote von Batesons Abduktion.34
Allerdings ist es bei Vico, ebenso wie bei einigen anderen in unserer Ahnengalerie so, dass er nur erste, zaghafte Ansätze eines systemischen bzw. konstruktivistischen Denkens entwickelt. Immerhin aber gehen konstruktivistische und systemische Ideen bereits bei ihm Hand in Hand: in Gestalt des Konstruktionscharakters der Welt sowie in Gestalt einer reflexiven Wendung auf den Beobachter selbst.
Eine dezidierte Durchdringung und Klärung beider Denkweisen bleibt jedoch dem 20. Jahrhundert vorbehalten und ist bis heute nicht abgeschlossen.
Früher Konstruktivismus II (Immanuel Kant)
Philosophisch fundierter wird all dies beim nächsten unserer Autoren: Immanuel Kant (1724–1804). Er ist zunächst einmal ein weiterer früher Vertreter in unserer konstruktivistischen Ahnengalerie. Kant verbrachte nahezu sein ganzes Leben im ostpreußischen Königsberg. Seine Kritik der reinen Vernunft gilt als »die Gründungsschrift der modernen Philosophie«*. Seine darin entwickelten erkenntnistheoretischen Einsichten haben in ihrem Kern bis heute Bestand. Darin betont er im Übrigen – ganz im Gegensatz zu Descartes – die fundamentale Bedeutung von sinnlicher Erfahrung.
In der Kritik der reinen Vernunft hält sich Kant gar nicht erst lang mit einleitendem Geplänkel auf. Schon sein erster Satz bringt eine zentrale philosophische Erkenntnis unmissverständlich auf den Punkt: »Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel«.35 Klarer kann man sich kaum gegen Positionen wie jener von Descartes positionieren. Erfahrung ist für Kant außerdem notwendigerweise abhängig von unseren Sinneswahrnehmungen. Sie wiederum sind jedoch beschränkt, sie bilden die Wirklichkeit nicht eins zu eins ab.
So etwas wie ein direkter Realismus, also die Annahme, dass die Welt genau so ist, wie wir sie wahrnehmen, erscheint in dieser Perspektive nicht nur als naiv, sondern sogar als obsolet. Denn wir haben nun einmal nur unsere Sinne, um die Welt wahrzunehmen. Fehlen sie uns, so fehlt uns eben auch die Wahrnehmung eines Teils der Welt. Und zumindest ein Argument von Descartes bleibt im Übrigen bestehen: Sinneswahrnehmungen können trügerisch sein. Umgekehrt, hätten wir noch weitere Sinne, beispielsweise für Radioaktivität, so würden wir über eine andere Wahrnehmung der Welt verfügen. Hätten wir uns dann jemals dem Wahnsinn hingegeben, derart mit dem radioaktiven Feuer zu spielen wie geschehen?
Ebenso wie Descartes sucht auch Kant nach einem festen Anker für seine Philosophie. Hierzu stellt er die Überlegung an, was das genauer sei, was nun jenseits unserer Sinne ist. Kant bezeichnet dies als das »Ding an sich«. Man mag sich darüber streiten, ob diese Bezeichnung passend sei oder nicht und was man nun überhaupt darüber sagen könne. Doch selbst, wenn wir zu einer exakten Erkenntnis unserer Welt gelangen könnten: Die nächsten Widrigkeiten lauern bereits. Die Kommunikation über unsere Wahrnehmung ist nämlich bereits wieder etwas anderes als die beschriebene Sache selbst. Wir bleiben hier unausweichlich in der Welt der Beschreibungen, und