Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens. Wolfram Lutterer
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Heinz von Foerster hat diese Aussage später übrigens nochmals weiter verdichtet: »Man kann nicht einmal einmal in denselben Fluss steigen.«9 Denn schon das Hineinsteigen selbst benötigt Zeit. Aber mehr noch, das Hineinsteigen verändert seinerseits sowohl den Fluss als auch uns selbst. So verändert sich die Temperatur unserer Haut im Kontakt mit dem Wasser, ebenso wie das Wasser rund um unsere Haut sich ein wenig erwärmt; vielleicht werden unsere Füße nass. Aber nicht zuletzt verändert sich unsere Perspektive von »außerhalb des Flusses« auf »im Fluss«, und es vergeht Zeit: Erfahrungszeit, Lebenszeit.
Doch mit Beobachtungen wie diesen wären wir bereits inmitten dessen, was später durch von Foerster als »Kybernetik zweiter Ordnung« bezeichnet wird, und somit in Diskussionen, die erst rund 2500 Jahre später erfolgen … und mittendrin im systemischen Denken.
Das menschliche Maß (Protagoras)
Protagoras (ca. 490–411 v. Chr.), der letzte des hier vorgestellten Trios früher griechischer Philosophen, war bereits ein Zeitgenosse dessen, der uns heute als Inbegriff des Philosophen schlechthin gilt: Sokrates. Im Gegensatz zu Sokrates jedoch, dessen Lebensdaten man recht genau kennt, wissen wir von Protagoras einmal mehr nur ungefähr, wann er gelebt hat. Mit Protagoras rücken wir endlich zudem näher an den zentralen Ort der griechischen Philosophie: Athen. Geboren in Abdera, ganz im Nordosten des heutigen Griechenlands, soll er einen großen Teil seines Lebens in Athen verbracht haben.
Protagoras folgt zunächst Annahmen, die bereits Xenophanes entwickelt hat. Dann geht er jedoch ein wesentliches Stück weiter. Für Protagoras ist nämlich der Mensch das »Maß aller Dinge«.10 Was meint das? Auf einen ersten Blick könnte man meinen, Protagoras plädiert für eine entschieden anthropozentrische Weltsicht im Sinne dessen, dass eben wir im Mittelpunkt der Welt stünden und dass das von uns angelegte Maß somit für alles und jedes gültig sei, also ganz anders als das eher krude wirkende »Macht euch die Erde untertan!« der biblischen Schöpfungsgeschichte.
Aber ganz so einfach ist es bei Protagoras nicht. Weitere überlieferte Fragmente seines Denkens klären hierzu weiter auf. Er erweist sich hierbei nämlich als ein entschieden reflexiver Denker, was sich insbesondere in seinem Verständnis wiederum von der Idee der Wahrheit offenbart. Versuchte Xenophanes noch, »Wahrheit« auf bloße »Annahme« zu reduzieren, argumentiert Protagoras durchaus moderner, dass »Wahrheit Relationalität« sei. Damit aber entwickelt er eine bereits dezidiert systemische Perspektive: Die Vorstellung einer Wahrheit steht bei ihm in Relation zu einem Beobachter. Als Grund für diese Position führt Protagoras genau dies auch an: »[…] weil jedes Erscheinende oder Vermeinte auf jenen hin (dem es erscheint oder deucht) vorliege.«11
Das »menschliche Maß aller Dinge« beinhaltet bei Protagoras damit eben nicht die Vorstellung eines primär menschfokussierten Weltbildes, sondern betont die Relativität einer Aussage zu ihrem Sprecher. Damit wird dies alles eher zu einem Akt konstruktiver Verzweiflung anstelle dogmatischer Weltsicht: Uns bleibt schlichtweg nichts anderes übrig, als uns zum Maß aller Dinge zu nehmen. Aber damit haben wir am Ende gar nicht so viel gewonnen – außer eben der Erfahrung der Relationalität vom Menschen und seiner Um-Welt.
Bei Protagoras kommen damit jedenfalls – vielleicht zum ersten Mal in der griechisch-alteuropäischen Geistesgeschichte – elaboriertere konstruktivistische und relativistisch-systemische Denkweisen zusammen. Wahrheit ist relativ zum Beobachtenden und in dieser Weise nicht absolut. Das menschliche Maß aller Dinge steht somit für das Eingeständnis dessen, dass wir über die Grenzen unserer Reflexivität und Relativität nur schwer hinauszugelangen vermögen. Ob daraus ebenjene Beliebigkeit folgt, die all die befürchten, die um einen festen Wahrheitsbegriff bemüht sind? Das mag sich zeigen.
Auf der Suche nach der Weisheit (Sokrates und Platon)
Mit Sokrates (469–399 v. Chr.) erreicht die eurozentristische Philosophiegeschichte ihren ersten großen Höhepunkt. Er soll der Erste gewesen sein, der sich selbst als einen »Philosophen« bezeichnet hat. Ein Philosoph ist – aus dem Griechischen übersetzt – ein »Freund der Weisheit«. Mit dieser Selbstbezeichnung hatte sich Sokrates vor allem gegen andere Denker seiner Zeit abgesetzt, die er als bloße »Sophisten« schmähte. Diese nämlich würden Wissen in Anspruch nehmen, das ihnen gar nicht zukommen könne. Gelebt hat Sokrates in Athen, sein ganzes Leben lang.
Sokrates folgt zunächst den wahrheitskritischen Positionen, die vor ihm bereits Xenophanes und Protagoras entwickelt hatten. Er hatte sich offenbar jedoch unter anderem daran gestört, dass sich die »Sophisten« für die Vermittlung ihres Wissens bezahlen ließen. Sokrates’ Philosophie hingegen war gratis. Und seine Idee, dass ein Philosoph ein Freund der Weisheit sei, beinhaltet bereits eine weitere konstruktivistische Wendung, distanziert er sich damit doch von absoluten Wissensansprüchen.
Unser heutiges Wissen über Sokrates verdanken wir vor allem seinem berühmtesten Schüler: Platon (427–347 v. Chr.). Während Sokrates selbst nämlich kein einziges schriftliches Werk hinterlassen hat und sogar die schriftliche Niederlegung seines Denkens Platon verboten haben soll, hat Platon später dennoch damit begonnen, das Denken seines philosophischen Meisters in der Gestalt von Dialogen wiederzugeben. Die antike Philosophie von Sokrates begegnet uns somit vor allem in der Form des Gesprächs.
Dem Vernehmen nach hat Sokrates seinen eigentlichen Beruf – er war vermutlich Bildhauer – reichlich vernachlässigt. Stattdessen trieb er sich lieber auf den öffentlichen Plätzen Athens umher und verwickelte andere ins Gespräch. Dabei konfrontierte er sie insbesondere mit ihrem je eigenen Denken.
Dieses sokratische Gespräch speist sich durch zwei Elemente: zum einen durch die gemeinsame Suche nach Erkenntnis und nach Weisheit, zum anderen durch die Konfrontation seiner Gesprächspartner mit ihren eigenen Aussagen: Sind sie mit ihren eigenen Annahmen überhaupt konsistent, und wie verhalten sie sich zu einem auch von ihnen selbst behaupteten größeren Ganzen?
Sokrates hat diese Weise, wie er im Gespräch nach Erkenntnis sucht, als eine »Hebammenkunst« bezeichnet. In Platons Theaitetos erklärt er, diese seine Hebammenkunst helfe beim Gebären von Seelen.12 Seine Gesprächspartner seien gewissermaßen mit all dem Wissen bereits schwanger, das sie im Gespräch erst offenbarten.
Platon lässt etliche seiner Dialoge in einer »Aporie«, in einer Situation der scheinbaren Ratlosigkeit, enden. Denn schließlich sollten diese Dialoge zur Lehre des philosophischen Denkens dienen und nicht zur bloßen reinen Erbauung. Zum Selberdenken sollten sie anregen. Der Leser ist aufgefordert, seine eigenen Schlüsse zu ziehen und nicht bloß Wissen nachzubeten. Aufgrund dieser besonderen Weise des Fragens ist Sokrates als der »erste Systemiker des Abendlandes«13 bezeichnet worden.
Dieser stetige Aufruf, nicht nur zu denken, sondern auch zu reflektieren und damit scheinbar Selbstverständliches zu hinterfragen, ist schon in Athen nicht nur auf Begeisterung gestoßen. Sokrates wurde mit dem Vorwurf vor Gericht gestellt, dass er mit seinen Reden die Jugend verderbe. In seiner Verteidigungsrede vor Gericht rechtfertigt er seine philosophische Haltung des berühmten Wissens über sein Nichtwissen:
»Ich dagegen weiß zwar auch nichts, glaube aber auch nicht, etwas zu wissen. Um diesen kleinen Unterschied bin ich also offenbar weiser, dass ich ebendas, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen vermeine.«14