Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens. Wolfram Lutterer
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Fernab davon, einen systematischen – und das meint an dieser Stelle: einen auf Vollständigkeit bemühten – Anspruch erfüllen zu wollen, werde ich im Rahmen eines breit angelegten Streifzugs durch unsere Geistesgeschichte zeigen, wie allgegenwärtig systemische Sichtweisen immer schon gewesen sind; aber auch, auf welche Widersprüche sie gestoßen sind und wie sie mit der Zeit an wissenschaftlicher Schärfe gewonnen haben. Bis hin zu unserer heutigen Zeit, wo – so zumindest meine Überzeugung – eigentlich kein Weg mehr an ihnen vorbeiführen kann.
Ein fünfter Anfang: Ich werde neben dem systemischen Denken insbesondere die Entwicklung konstruktivistischer Ideen berücksichtigen. Es wird sich zeigen, wie sehr sich beide Denkweisen immer stärker miteinander verknüpfen. Da Systeme zudem so einiges mit der Setzung von Grenzen zu tun haben, präsentiere ich zur Abgrenzung zudem eine Reihe zentraler Gegenentwürfe. Denn wenn alles beliebig oder sogar allumfassend wäre, würde nichts mehr einen Unterschied ausmachen. Zudem ist es mir insgesamt ein besonderes Anliegen, die jeweiligen Autorinnen und Autoren selbst zu Wort kommen zu lassen. Wer einen umfassenderen wissenschaftlichen Apparat erwartet, den muss ich daher leider enttäuschen.
Sechstens: Für wen ist dieses Buch gedacht? Eigentlich für alle, die sich mit systemischen, kybernetischen, ökologischen oder konstruktivistischen Denkweisen befassen wollen; egal, ob sie sie nun als sinnvoll, als gut oder als wichtig erachten oder eben nicht. Nachdem zumindest im deutschsprachigen Raum systemische Sichtweisen vor allem in der Beratung und in der Therapie größere Bedeutung erlangt haben, werden diese Bereiche besonders berücksichtigt.
Anfänge möchte dieses Buch schließlich dahin gehend setzen, dass es unser Denken über das Systemische stärker fokussieren möchte. Ich werde dabei durchaus Stellung beziehen. Aber alles andere wäre letztendlich absurd, insbesondere wenn man bedenkt, dass systemische Ideen stets im Kontext der jeweiligen Autorinnen und Autoren zu sehen sind. Nicht alle der dabei angerissenen Fragen werden beantwortet werden können.
Meinen außerordentlichen Dank möchte ich an dieser Stelle allen aussprechen, die das Entstehen dieses Buches in verschiedenster Weise begleitet haben, sei es weil sie es ganz oder in Teilen gelesen haben, sei es, dass sie es in anderer Weise unterstützten. Besonderen Dank sei ausgesprochen an Alex Fauler für etliche Gespräche rund um Physik und Wissenschaftstheorie, Ralf Holtzmann für die angenehme und kompetente verlagsseitige Begleitung des Projekts, Uli Wetz für das sorgfältigte Lektorat, Tom Levold für wertvolle kritische Impulse zu Inhalt und Struktur, Bernhard Pörksen für inspierende parallele Ideen bereits in den ersten Monaten dieses Unternehmens, Larissa Seiffert für kritisches Lesen etlicher Kapitel und genderspezifischer Impulse, Markus Vosteen für engagiertes Lesen weiter Teile dieses Buches und vor allem an meine Frau Nicole, die den gesamten Schreibprozesses, der dann doch drei Jahre länger dauerte als gedacht, begleitete und wundervoll unterstützte.
1Was ist das eigentlich: »systemisch«?
Was ist denn nun genauer als systemisch zu bezeichnen? Dieses Buch unternimmt hierzu als Ganzes eine Annäherung. Wer sich dabei eine einfache und am Ende sogar allgemein verbindliche Antwort erhofft, den muss ich schon jetzt enttäuschen. Denn, wie bereits in der Einführung angeklungen: Die Vielzahl an systemisch orientierten Denkweisen macht eine derartige Antwort zu einem tendenziellen Ding der Unmöglichkeit. Aber mehr noch, es wird sich zeigen, dass das Denken über das Systemische selbst mit ein paar besonderen Tücken daherkommt. Was ich in diesem Zusammenhang dennoch gerne anbiete, ist meine ganz persönliche Antwort.
Der Einfachheit halber beginne ich mit dem, was noch so einigermaßen einfach ist, nämlich woher Begriff des Systemischen stammt und was er sprachlich bedeutet.
Zur Begriffsklärung: Aller Anfang ist leicht …
Was also ist »systemisch«? Der Begriff des Systems stammt aus dem Altgriechischen. Es wird daher kaum verwundern, wenn bei den Griechen bereits erste Formen systemischen Denkens fassbar werden. Doch eins nach dem anderen …
Ein System ist zunächst einmal, so eine übliche und allgemeine Definition, ein aus mehreren Dingen zusammengesetztes Ganzes. Das griechische Wort hierfür lautet sýstema (τὸ σύστημα)1. In diesem Sinne könnten wir bereits einen Stuhl als ein »System« ansehen. Schließlich besteht er für gewöhnlich aus mehreren Teilen. So einfach können also Systeme sein. Damit kommen wir nun zwar noch nicht sehr viel weiter, wenn es um systemisches Denken geht, doch ein erster Anfang ist gemacht. Irgendetwas darf als »zusammengesetzt« angenommen werden.
Der berühmte Kybernetiker Heinz von Foerster betont in diesem Zusammenhang die Wortwurzel »syn« im Systembegriff. »syn« steht nach seinen Worten für »Zusammenstellen«. Ebendieses »syn« steckt zudem in der »Symphonie« (»Sinfonie«) und in der »Synthese«. Von Foerster grenzt diese »syn«-Idee« insbesondere von der »Science«, dem Begriff für Wissenschaft der englischen, der französischen und der italienischen (scienza) Sprache ab. »sci« steht entgegen dem »syn« für Trennung, Unterscheidung und Separation. Unschwer zu erkennen darin ist das typisch wissenschaftliche Vorangehen. Die Silbe »sci« ist darüber hinaus enthalten in Begriffen wie »Schisma« und »Schizophrenie« sowie – wie von Foerster mit einem Augenzwinkern hinzufügt – in »Scheiße«2. Überall dort sprechen die Begriffe von einer Abtrennung von etwas. Von Foerster prägt in diesem Zusammenhang übrigens den Begriff der Systemik für das Systemische.
Der zweite zentrale Begriff im Rahmen dieses Buches ist der des Konstruktivismus. Er ist im Gegensatz zum Systembegriff aus dem Lateinischen abgeleitet: con steht für »zusammen mit«, struere für »bauen«. Also wird hier etwas zusammengebaut – so zum Beispiel ein Stuhl.
Mir selbst ist dieser Begriff erstmals im Bereich der Architektur begegnet, wo er im frühen 20. Jahrhundert eine Rolle spielte. Als Konstruktivismus wird unter anderem eine Stilrichtung in der Architektur der frühen Sowjetunion ab 1919 bezeichnet.3 Dieses ursprünglich architektonisch inspirierte Verständnis vom Konstruktivismus möchte ich auch im Rahmen dieses Buches nahebringen. Denn auf diese Weise lässt sich gleich mehreres veranschaulichen: So benötigt ein Haus ein geeignetes Fundament, damit man darauf bauen kann. Durch ein Fundament werden zugleich jedoch eine Reihe von Möglichkeiten ebenso wie einschränkender Bedingungen dafür geliefert, was für ein Haus überhaupt darauf gebaut werden kann. Das Fundament kann für das Haus zu groß oder zu klein sein. Darüber hinaus aber könnte das Haus auch so geplant sein, dass es gar nicht erst gebaut werden kann, vielleicht weil die passenden Baustoffe für irgendeine architektonische Idee fehlen. Zusammenfassend: Es gibt sowohl mögliche als auch nicht mögliche Konstruktionen. Das lässt sich in der Architektur noch deutlich leichter erkennen, als wenn es sich um unser Denken selbst handelt. Konstruktionen sind also nicht beliebig. Auf dem gleichen Fundament können jedoch die verschiedensten Bauten entstehen.
Damit zurück zu dem anfangs bereits benannten »systemischen« Stuhl: Er ist nicht schon immer dagewesen, sondern er wurde zusammengebaut, er wurde also in einer sehr handfesten Weise konstruiert. Was aber geschieht, wenn man ihn wieder auseinandernimmt oder, noch besser, ihn zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung macht? Dann versucht man zu ergründen, was ihn überhaupt zum Stuhl macht und woraus er besteht. Vielleicht versuche ich dabei sogar, seine Essenz zu ergründen. Dann verbrenne ich ihn vermutlich und erachte dann ein Häufchen Asche und etwas Kohle als ebendiese. Nun denn, warum nicht?
Eine zentrale und im Verlauf des Buches weiter auszuführende wissenschaftliche Praxis besteht im