Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens. Wolfram Lutterer
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Somit: Wir können unsere Wirklichkeit auf durchaus verschiedene Arten und Weisen zu erfahren versuchen. Wir können uns ihr konstruktivistisch, reduktionistisch oder auch existenzialistisch nähern und dergleichen mehr. Wir können reduktionistisch irren, aber auch konstruktivistisch, denn obzwar wir vieles in je verschiedener Weise konstruieren können – Beliebigkeit anzunehmen kann dann doch zu unliebsamen Konsequenzen führen. Mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen hat sich nur selten bewährt. Wenn wir nun insgesamt aber versuchen, eine Haltung einzunehmen, die mehrere Perspektiven mit einschließt und auch die Folgen von Handlungen zu berücksichtigen versucht, dann sind wir in einem Bereich, der als systemisch zu bezeichnen ist.
Aller Anfang ist leicht … oder etwa nicht?
Eine erste Brücke insbesondere zwischen dem systemischen Denken und dem Konstruktivismus könnte somit wie folgt geschlagen werden: Wir mögen uns zwar nicht immer sicher sein, wie Systeme genauer beschaffen sind, ob sie immer schon da waren, wie sie am besten zu beschreiben sind und dergleichen mehr. Alle unsere Aussagen über Systeme sind jedoch von genau den Beobachtungen und den Unterscheidungen abhängig, die wir gemacht und somit konstruiert haben. Es könnte auch anders sein (muss es aber nicht). Daher sind alle unsere Aussagen, die wir über Systeme machen, notwendigerweise Konstruktionen.
Des Weiteren wage ich die Vermutung, dass die wirklich interessanten Systeme die eher komplexeren sind; befürchte jedoch zugleich, dass gerade sie es sind, die am ehesten zu einfachen Beschreibungen verleiten. Ein kurzer Blick in die Tagespolitik mag genügen, dies zu illustrieren. Irgendein Staat tut etwas, das uns nicht gefällt, also ist er ein Schurkenstaat. Also darf er – so die zumindest zeitweilige Doktrin der USA – bombardiert werden. Gerade bei derartigen Simplizismen setzt systemisches Denken an, indem es vorhandene Komplexitäten zu begreifen versucht, ohne sich allzu viele theoretische Scheuklappen aufzusetzen.
Damit rückt eine weitere Frage in den Fokus: Denken wir denn tatsächlich auch systemisch? Nun, zumindest auf der neurobiologischen Ebene scheint hier alles klar. Neuronale Netze lassen sich nämlich kaum anders verstehen als eben systemisch. Aber wie verhält es sich mit unserem Bewusstsein? Und was macht es gegebenenfalls aus, wenn wir systemisch denken und so unsere Welt zu begreifen versuchen? Und was folgt aus der angenommenen Stärke systemischer Denkweisen, nämlich mehreres in einem zu denken? Ergänzen sich die verschiedenen entwickelten Perspektiven, oder erweist sich die Vielzahl an »systemischen« bzw. »systemtheoretischen« Ansätzen am Ende doch nur als unnötig kompliziert, als letztlich undurchschaubar oder gar als widersprüchlich? Fragen wie diese werden uns durch dieses Buch begleiten.
Ich versuche im Folgenden, eine Art kleiner Ahnengalerie des systemisch-konstruktivistischen Denkens vorzustellen. Dabei werde ich mir die Freiheit der Auswahl nehmen. Es werden jeweils bloße Aspekte aus deutlich größeren Gedankengebäuden genommen, und dies zuweilen sogar von Autorinnen und Autoren, die ansonsten nicht gerade als systemisch erachtet werden. Ich werde den referierten Personen und Ideen also nicht in dem Sinne »gerecht«, dass ich ihre jeweilige Gesamtaussage nachzuerzählen versuche oder aber ihrer typischen Interpretation nachfolge. Zudem werden so manche von ihnen, die andere als wichtig erachten mögen, bestenfalls gestreift, wenn nicht sogar ignoriert. Und da sich unser Denken immer wieder über das Treffen von Unterscheidungen vollzieht, werden zudem einige prominente gegenläufige intellektuelle Traditionen thematisiert – Autorinnen und Autoren, deren Gedanken in besonderer Weise quer zu dem stehen, was hier als systemisch verstanden wird.
2Ausflug in die Antike
Vorformen dessen, was wir heute als systemisch oder als konstruktivistisch bezeichnen, gibt es, seit wir Menschen über unser Dasein nachdenken. Und es gibt sie nicht nur in der kulturellen Wiege des europäischen Kulturkreises, im antiken Griechenland. Es gibt sie auch fernab, etwa in den asiatischen Kulturkreisen. Dieses Kapitel wird entsprechend unserer eigenen Geistesgeschichte zwar dennoch auf Griechenland fokussieren und dort eine Reihe von mehr oder weniger bekannten Denkern vorstellen: Xenophanes, Heraklit und Protagoras sowie natürlich Sokrates, Platon und Aristoteles. Aus dem außereuropäischen Kulturraum werde ich wenigstens auf zwei Denker näher eingehen, Siddhartha Gautama und Laozi.
Vom Erkennen (Xenophanes)
Es ist nicht viel, was wir von dem Denken der frühen antiken Philosophen wissen. Nur weniges wurde schriftlich festgehalten und hat die Zeiten überdauert. Etliche antike Texte sind verloren gegangen oder dringen allenfalls vermittelt durch andere zu uns, die ungleich später davon berichteten. Wir haben somit oftmals kaum mehr eine Chance, zu einer wirklich zuverlässigen Einschätzung einzelner antiker Denker vorzudringen. Wohl aber regt einiges zumindest zum Nachdenken an, und dies mag durchaus einen guten Einstieg darstellen.
Ein langes Leben ist offenbar nicht ausschließlich ein Ergebnis moderner Medizin. Der antike Philosoph Xenophanes soll steinalt geworden sein. Etwa 95 Jahre scheint er gelebt zu haben (ca. 570–475 v. Chr.). Geboren in Kolophon, an der Westküste der heutigen Türkei gelegen, soll er aus seiner Heimatstadt vertrieben worden sein und hat danach an verschiedenen Orten gelebt.
Xenophanes eröffnet eine Weise des Denkens, die wir heute zumindest einer Vorform des Konstruktivismus zuordnen würden. Denn er äußert sich reichlich skeptisch in Bezug auf unser Erkenntnisvermögen:
»Klares hat freilich kein Mensch gesehen, und es wird auch keinen geben, der es gesehen hat […]. Bei allen Dingen gibt es nur Annahme.« 4
Schon so früh werden also schon Zweifel geäußert an der Sicherheit unserer Sinneswahrnehmungen bzw. an dem, was unsere Erfahrungswelt angeht. Vermutlich würde ein moderner Konstruktivist einen Satz wie diesen gerne unterschreiben. Mit dieser Skepsis, was »Klares« anbelangt, und der Betonung dessen, dass wir nur von Annahmen ausgehen können, dürfte offensichtlich sein, dass es so etwas wie Wahrheit für Xenophanes demnach gar nicht erst geben kann, zumindest nicht, was unsere Erfahrungswelt anbelangt. Wer weiß, vielleicht war er es sogar, der das jahrtausendealte philosophische Ringen um das kleine, feine Wörtchen »Wahrheit« mit diesen knappen Worten eingeleitet hat? Jedenfalls eröffnet er einen Diskurs, der bis heute nachhallt.
Nun mag man sich vielleicht zunächst noch damit trösten, so strikt habe er dies doch gar nicht gemeint. Doch sehr deutlich ist eine weitere, in ihrem Kern sogar noch weiter gehende Feststellung, die Xenophanes in diesem Zusammenhang bezüglich unseres Urteilsvermögens macht:
»Denn sogar wenn es einem in außerordentlichem Maße gelungen wäre, Vollkommenes zu sagen, würde er [der Mensch] sich dessen trotzdem nicht bewusst sein.«5
Wir können somit zwar das Richtige sagen, aber nie so weit kommen, dies beweisen zu können. Es bleibt immer nur Annahme. Damit erweist sich Xenophanes als konsequent in seiner Skepsis. Am Ende mögen wir recht haben, wir werden es aber niemals wirklich wissen können. Wir können gar nicht genau wissen, was wir wirklich wissen.
Es mag anhand