Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens. Wolfram Lutterer
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»Dasjenige, was so zusammengesetzt ist, dass das Ganze eines ist, nicht wie ein Haufen, sondern wie die Silbe, ist nicht nur seine Elemente.«21
Somit, im Kurzen: Das Ganze ist nicht die bloße Summe seiner Teile, sondern etwas anderes. So wie etwa die Silbe »eins« zwar aus vier Buchstaben besteht, aber inhaltlich rein gar nichts mit dieser »Vierheit« zu tun hat. Die von Aristototeles hier vermittelte Erkenntnis ist in der Folge häufig zu einem »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile« kondensiert worden. Doch ebendieses »mehr« beinhaltet eine gewisse Unschärfe. Kommt da einfach noch etwas mit dazu? Es wäre sicherlich besser, stattdessen darauf hinzuweisen, dass das Ganze »etwas anderes« ist als die Summe seiner Teile (Metzger 1975, S. 6).22 In dieser Weise entkommt man zudem einem dümmlichen Reduktionismus, der aus dem »mehr« allenfalls wieder seine besondere Elemente zu extrahieren sucht.
Dieses von Aristoteles bereits erkannte Phänomen wird über 2000 Jahre später unter anderem als »Emergenz« bezeichnet – und es wird in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Disziplinen als eine wesentliche Eigenschaft komplexer Phänomene erkannt werden. Aristoteles selbst ist im Übrigen sogar jenseits der Philosophie zu Bekanntheit gelangt; war er doch Lehrer des größten Erobereres, den die altgriechische Welt hervorgebracht hat: von Alexander dem Großen.
Und die Frauen?
Bei aller Begeisterung für die vielfältigen Anfänge des philosophischen Denkens im antiken Griechenland kann eines nicht verschwiegen werden. Die viel gerühmte attische Demokratie war nämlich von unserem modernen Demokratieverständnis noch ein ganz schönes Stück weit weg. Athen war, ebenso wie die anderen Stadtstaaten der damaligen Zeit, eine Sklavenhaltergesellschaft, und die Anzahl der Sklaven hat die Anzahl der freien Bürger vermutlich deutlich überschritten. Den Frauen ging es damals nicht viel besser – sie standen offenbar lebenslang unter der Vormundschaft ihres Mannes bzw. ihres Vaters oder ihrer Brüder. Die attische »Demokratie« umfasste somit bloß eine Minderheit und ihre Interessen. Aber immerhin: Ein wichtiger Anfang wurde gemacht.23
Trotz dieser schwierigen Rahmenbedingungen gibt es eine Reihe von Philosophinnen, die zumindest dem Namen nach überliefert sind, obzwar kaum etwas von ihrem Denken bekannt ist. Eine dieser Spuren führt direkt wiederum zu Sokrates zurück, denn es war eine Frau – Aspasia von Milet –, die ihn offenbar in Sachen »Rhetorik« unterrichtet hat. Doch offenbar war dies bereits eine Provokation für die damalige Gesellschaft: eine zwar nahezu rechtlose, aber dennoch gebildete Frau. Aspasia habe »nicht gerade ein ehrbares, anständiges Gewerbe«24 betrieben, sondern sie habe ein Bordell geführt, wurde behauptet. Was sie hingegen gedacht oder gar geschrieben hat, das ist nicht überliefert.
Wenigstens mag man an der Tatsache einer derartigen Schmähung erkennen, dass Philosophinnen wie Aspasia nicht ganz unwichtig gewesen sein können. Ähnliches widerfuhr im Übrigen der Frau von Sokrates: Xanthippe wurde von dem Sokratesschüler Xenophon zum Urbild der zänkischen Ehefrau gemacht – ein Name, der bis heute in dieser Weise nachhallt.
Die griechische Antike setzt damit leider trotz aller ihrer Errungenschaften ein äußerst unrühmliches Vorbild für das Verhältnis von Mann und Frau. Das frühe Christentum verstärkt unglücklicherweise noch diese Tendenzen. Erst mit der allmählichen Auflösung der feudal orientierten Gesellschaftsstrukturen ab dem 18. und stärker noch dem 19. Jahrhundert verändern sich die Chancen für weibliche Bildung und soziale Partizipation auf breiter Ebene.
Damit schließt dieser Ausflug in die Antike. Gezeigt wurde, dass bei allen Zwiespältigkeiten in jener Epoche erste handfeste Einsichten in die systemische und konstruktivistische Struktur unserer Wahrnehmungswelt entwickelt wurden. Einen besonderen Stellenwert nahmen hierbei Diskurse über den Begriff der Wahrheit sowie eine Reihe vorsystemischer, eher noch relationaler Gedanken ein.
Ein etwas längerer Gang durch die Antike hätte sicherlich neben Griechenland noch Rom gestreift – sowie darüber hinaus Ägypten und Persien und überhaupt den außereuropäischen Raum. Weitere wichtige europäische Denker kamen zudem gar nicht erst vor; ebenso wurde auf die Darstellung all der Gegenpositionen verzichtet, die natürlich schon damals vorhanden waren. Nur bei Platon wurde kurz ein Fenster geöffnet – zur Demonstration dessen, welche Kippbewegungen dem philosophischen Diskurs innewohnen können.
*Es gibt, auch im Deutschen, mehrere Schreibweisen des Namens (»Laotse«, »Lao-Tse« …). Mittlerweile etabliert hat sich jedoch die Schreibweise »Laozi«.
3Intermezzo im Mittelalter
Wir machen einen Sprung von über 1000 Jahren. Das Mittelalter erscheint uns heute zuweilen als die sagenumwobene Zeit der Rittersleute und des Minnesangs, der Völkerwanderung und einer allgemeinen Phase des Niedergangs nach dem Untergang Roms. Das Mittelalter, also jener Zeitraum, der zwischen Antike und Neuzeit liegt, umfasst seinerseits ebenfalls nochmals rund 1000 Jahre, in etwa die Spanne vom 6. bis zum 15. Jahrhundert. Das ausgehende Mittelalter war die Zeit, in der weit in den Himmel emporragende Kathedralen errichtet wurden und in welcher die Kirche und insbesondere die Klöster eine zentrale Rolle für Bildung und Erziehung spielten.
Stellvertretend für diese Zeit werde ich jedoch nicht von den Ideen und Überlegungen von Thomas von Aquin, Roger Bacon, Wilhelm von Ockham oder Meister Eckhard berichten. Sie kamen zudem allesamt erst später und folgten daher zumindest in zeitlicher Hinsicht einer bis heute hin berühmten Frau, die wir für gewöhnlich allerdings leider eher im Kräutergarten verorten als in der Philosophie: Hildegard von Bingen.
Die Welt und der Mensch (Hildegard von Bingen)
Hildegard von Bingens langes Leben umspannte fast das ganze 12. Jahrhundert (1098–1179). Ihr Geburtsort ist nicht ganz sicher; Bermersheim vor der Höhe, bei Alzey gelegen, erscheint als wahrscheinlich. Früh wurde sie Benediktinerin und gründete um 1150 das Kloster Rupertsberg, wo sie auch starb.
Hildegard von Bingen gilt als die erste deutsche Vertreterin der Mystik. Offenbar hatte sie Visionen, die sie göttlichem Ursprung zuschrieb und schriftlich niederlegte. Jedenfalls sind ihre Schriften von stark religiösem Charakter. Doch was sind »Visionen«? Wahnartige Vorstellungen, intensive kreative Phasen oder gar Flow-Erlebnisse, wie man heute vielleicht versucht wäre zu sagen? Wer weiß das schon.
In dem relativ spät verfassten Werk Welt und Mensch entwickelt Hildegard jedenfalls eine groß angelegte Schau der Verbundenheit: von Gott mit dem Menschen, aber auch vom Menschen mit der Welt sowie der Menschen untereinander:
»Jede kosmische Kraft wird von einer anderen gesteuert und gebremst, so wie auch ein starker Mann einem Feind in die Arme fällt, damit er nicht sich selbst oder andere umbringe. So ist jedes Geschöpf mit einem anderen verbunden, und jedes Wesen wird durch ein anderes gehalten.«25
Diese Form der Kosmologie, die Hildegard hier vorstellt, liest sich deutlich anders als etwa die biblische Schöpfungsgeschichte, welche ja vergleichsweise statischer Natur ist. Hier wird ein starkes Bild der Interdependenz entwickelt. Das göttliche Wirken selbst gerät dadurch sogar eher in den Hintergrund, obwohl es selbstredend alles »durchdringt«.
Selbst die Moralität