Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens. Wolfram Lutterer

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Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens - Wolfram Lutterer Systemische Horizonte

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als den frühesten Konstruktivisten anzuerkennen. Zudem könnte man natürlich sagen, die alten Griechen haben es nun einmal einfach nicht besser gewusst. Doch Xenophanes formuliert Annahmen, welche immer wieder aufgegriffen, neu formuliert und diskutiert werden: so etwa rund 100 Jahre später bei Sokrates oder über 2000 Jahre später bei Immanuel Kant – und schließlich bis heute.

      Unsere Spurensuche nach systemischen Ideen beginnt somit gar nicht mit einer klassisch »systemischen« Einsicht, sondern mit einem Vorbehalt bezüglich unseres Erkenntnisvermögens. Um dies kurz anhand des vorigen Beispiels mit dem Stuhl auszuführen: Wir können uns niemals wirklich sicher sein, dass der Stuhl, auf dem wir gestern gesessen haben, uns heute noch trägt. Es bleibt uns jedoch wohl trotzdem nichts anderes übrig, als daran zu glauben und insbesondere darauf zu vertrauen, wollen wir uns nicht völlig dem Zweifel und der Verzweiflung ausliefern. Es wird im weiteren Verlauf noch deutlicher werden, wie sehr sich systemische und konstruktivistische Annahmen miteinander verzahnen.

       Vom bedingten Entstehen (Siddhartha Gautama)

      Unsere Ideengeschichte bleibt bis heute weitgehend eurozentrisch. Deswegen sei ein wenigstens kursorischer Blick über die eigenen kulturhistorischen Grenzen hinweg gewagt. Nicht viel später als Xenophanes hat nämlich der welthistorisch ungleich bekanntere Siddhartha Gautama (ca. 563–483 v. Chr.), bekannt geworden vor allem unter dem Namen »Buddha«, gelebt.

      Siddharta wurde in Lumbini, im heutigen Nepal nahe der Grenze zu Indien gelegen, geboren. Gestorben ist er in Kushinga, in Indien, nahe der Grenze zu Nepal. Mit 29 soll er das Haus seiner Eltern und seine Frau verlassen haben, um das Leben eines Asketen und Wanderers und später eines Weisheitslehrers zu führen. »Buddha« steht für den »Erwachten«.

      An dieser Stelle seien meinerseits jedoch keine umfangreicheren Kenntnisse des buddhistischen Denkens beansprucht. Im Gegensatz zu den kleinen Textfragmenten, die wir von den frühen Griechen kennen, scheint von Siddhartha selbst gar nichts überliefert zu sein. Es gibt also nur Schriften, die über ihn bzw. in seinem Sinne entstanden sind.

      Aus einer dieser Schriften, der Mahāvagga, dringt jedoch eine insbesondere in systemischer Sicht sehr eindrückliche Verknüpfung von Ideen durch. Es handelt sich hierbei um Buddhas zwölfgliedrige Kette des »bedingten Entstehens«, die »vorwärts und rückwärts« zu durchdenken sei:

      »Es entsteht aufgrund von Unwissen Gestalten, aufgrund des Gestaltens Bewusstsein, aufgrund von Bewusstsein Körper und Geist, aufgrund von Körper und Geist die sechsfache (Sinnen-)Grundlage, aufgrund sechsfacher (Sinnen-)Grundlagen Berührungen, aufgrund von Berührungen Gefühl, aufgrund von Gefühl Verlangen, aufgrund von Verlangen Anhaften, aufgrund von Anhaften Werden, aufgrund von Werden Geburt, aufgrund von Geburt Alter, Tod, Kummer, Sorge, Leid, Trübsinn und Verzweiflung. Auf diese Weise entsteht die Gesamtheit von Unzulänglichkeiten. Durch völlige Aufgabe und Auflösung von Unwissenheit löst sich Gestalten auf, durch Auflösung …« 6

      Diese zwölfgliedrige Kette folgt auf den ersten Blick vielleicht zwar nicht unbedingt unserem typischen kausal orientierten Verstehen und Verketten von derartigen Prozessen und Phänomenen; als eine bloße »Kette« verstanden wäre sie zudem natürlich kein Zeichen für ein frühes systemisches Denken. Aber es lohnt sich vielleicht, kurz innezuhalten und jenes »vorwärts und rückwärts« zu Denkende ernst zu nehmen. So führt ja Werden beispielsweise zu Geburt, aber genau umgekehrt wiederum Geburt zum Werden. Zudem entsteht Gefühl nicht nur durch Berührungen, sondern auch aufgrund von Verlangen – und dann vielleicht wiederum als Gefühl zu Berührungen.

      Es lässt sich somit mit all diesen Kettengliedern hin und her spielen und sich hierbei vergegenwärtigen, wie sehr diese Glieder miteinander verbunden sind. Dies zumindest sollte Grund genug dafür sein, Siddharta in die Reihe systemischer Vor-Denker einzureihen.

       Von der Einheit (Laozi)

      Gelebt haben soll Laozi in einem Landstrich, der heute zu der chinesischen Provinz Henan gehört. Laozi gilt als der Begründer des Taoismus. Und im Gegensatz zu Buddha ist immerhin eine Schrift überliefert, die ihm zugerechnet wird, das Daodejing – bzw. in anderer Schreibweise Tao-te-king.

      Im Daodejing zeigt Laozi mithilfe verschiedenster Beispiele, ganz ähnlich wie Siddharta, die wechselseitige Bedingtheit von Phänomenen auf. Schon zu Beginn formuliert er:

      »Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen,

      so ist dadurch schon das Hässliche gesetzt.

      Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen,

      so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt.

      Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander« (Laotse 1978, S. 42).7

      Damit nimmt er eine sichtbar relativistische Perspektive ein. Es gibt eine grundsätzliche Verbundenheit von eigentlich als komplementär erachteten Dingen. Es kann nicht einfach alles nur – so wie in manchen Kindheitsträumen vielleicht – gut und schön sein. Vielmehr sind dies jeweils notwendigerweise Gegensatzpaare. Nichts Schönes ohne das Hässliche, so einfach ist das.

      Laozi formuliert darüber hinaus eine kritische und wiederum relativistische Feststellung, was das Wissen selbst anbelangt: »Die Nichtwissenheit wissen ist das Höchste« (ebd., S. 114). Ähnliches wird später Sokrates formulieren. Alles in allem offenbaren sich damit bei Laozi deutliche prä-konstruktivistische sowie systemische Gedanken.

      Im europäisch geprägten Kulturraum sind Buddha und Laozi vor allem seit dem 19. Jahrhundert breiter rezipiert worden. In inhaltlicher Hinsicht unterscheiden sich ihre frühen Gedanken jedenfalls nicht sehr von dem, was zur gleichen Zeit auch in unserem Kulturkreis anzutreffen ist: An sehr unterschiedlichen Orten finden sich Spuren und frühe Einsichten in die systemisch-konstruktivistische Struktur unserer Welt. Damit nun wieder zurück zu den Griechen.

       Vom Fließen (Heraklit)

      Heraklit (ca. 520–460 v. Chr.) ist ein weiterer der frühen, vorsokratischen griechischen Philosophen. Von ihm werden eine Reihe von auf den ersten Blick reichlich merkwürdig anmutender Sprüche überliefert.

      Berühmt geworden ist seine Behauptung: »Es ist unmöglich, zweimal in denselben Fluss hineinzusteigen.«8 Warum? Beim nächsten Mal ist der Fluss bereits ein anderer, es fließt anderes Wasser durch ein anderes Flussbett. Heraklit verdeutlicht damit, dass alles in Veränderung befindlich ist. Daraus aber, so könnten wir folgern, sind auch unsere Beobachtungen als zeitgebunden anzusehen und deshalb nicht als absolut zu setzen. Gelebt hat Heraklit in Ephesos, an der Westküste der heutigen Türkei gelegen.

      Heraklit belässt es jedoch nicht bei dieser bloßen und vielleicht sogar etwas banalen Beobachtung, dass sich unsere Umwelt in stetiger Veränderung befindet. Sein Argument geht einen wesentlichen Schritt weiter: »In dieselben Flüsse steigen wir

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