Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens. Wolfram Lutterer

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Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens - Wolfram Lutterer Systemische Horizonte

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finden sich dann eine Menge Leute, die zwar meinen, etwas zu wissen, in Wirklichkeit aber wenig oder nichts wissen.«15

      Dieser Kampf, den Sokrates gegen überbordende Wissensansprüche führte, ist von uns heute vielleicht gar nicht so weit weg. Machtinteressen werden allerorten in Gestalt von »Wahrheits-«Aussagen umkodiert (mit dem unseligen Beispiel des US-Präsidenten Trump). Weiterhin werden fröhlich Wissensansprüche der verschiedensten Art geäußert, und teilweise scheint es sogar, je fantastischer und einfacher sie sind, desto besser. Oder aber – besonders schlau – es wird aus der scheinbaren Relativität von jeglichem Wissen dann zuerst eine scheinbare Beliebigkeit diagnostiziert, und dann werden doch wieder die eigenen, besonders bequemen oder (wahlweise) perfiden Wahrheiten verkündet.

      Aber bei aller Relativität und bei allem Wissen übers Nichtwissen: Ich glaube, wir dürfen weiterhin davon ausgehen, dass es ausgesprochen dumme oder auch falsche Aussagen gibt. Und in Vorwegnahme späterer Gedanken: Der Verzicht auf den Begriff der Wahrheit führt nicht notwendig auch zur Aufgabe vom Falschen – es ist alles nur nicht ganz so einfach und so bequem, wie wir es vielleicht gerne hätten.

      Rund 2400 Jahre nach Sokrates wird seine Perspektive radikalisiert. Heinz von Foerster erklärt in ebendieser intellektuellen Tradition: »Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.«16 Warum? Zunächst einmal kurz und knapp: »Wer von Wahrheit spricht, macht den anderen direkt oder indirekt zu einem Lügner.«17 Für von Foerster kann die Inanspruchnahme von Wahrheit letztendlich zu katastrophalen Folgen bis hin zu Kriegen führen – so wie in der Menschheitsgeschichte bereits vielfach durchlitten. Aber was bleibt, wenn man auf die Inanspruchnahme von Wahrheit verzichtet? Dann erst zeigt sich die eigentliche, für von Foerster »fundamentale« Relation: Vertrauen18.

      Alles in allem erweist sich die Suche nach Wahrheit, Erkenntnis und verlässlichem Wissen als ausgesprochen schwierig. Der Philosoph Sokrates fordert eine fundamentale Einsicht in das notwendige Nichtwissen, der Kybernetiker von Foerster ächtet den Wahrheitsbegriff an sich. Sokrates scheint letztendlich an das Gute und insbesondere die Frage nach dem Guten geglaubt zu haben, von Foerster stellt ebenfalls die Ethik in den Mittelpunkt seines Denkens. Wird das genügen?

      Aber was ist aus Sokrates letztendlich geworden? Die Athener haben ihn schließlich für schuldig erklärt, dass er tatsächlich die Jugend verdorben habe. Vor die Wahl gestellt, im Alter von rund 70 Jahren Athen zu verlassen und ins Exil zu gehen oder einen Schierlingsbecher zu leeren und damit sich selbst zu töten, wählte er das Letztere. Seine Philosophie hat jedoch bis heute überdauert. Mit ihm bleibt die Erkenntnis, dass es durchaus lebensgefährlich werden kann, frei zu denken und zu sprechen. Aufgrund der großen Bedeutung von Sokrates in unserer Geistesgeschichte darf er zudem den ersten Platz in unserer kleinen Ahnengalerie einnehmen – wobei sein großes Standbild umringt gedacht sein darf von den Standbildern von Xenophanes, Heraklit und Protagoras sowie Siddharta Gautama und Laozi.

      Der Philosoph Platon selbst ist zwar einerseits unsere wichtigste Quelle, was das sokratische Denken anbelangt, andererseits steht er auch stellvertretend dafür, dass einige der hier referierten Autoren durchaus durch eine ganz anders geartete – antisystemische – Brille betrachtet werden können. Platon macht es uns hierbei besonders einfach, denn sein Denken in seinen früheren Schriften (vermutlich noch recht nahe an Sokrates orientiert) unterscheidet sich in doch recht hohem Maße von seinem späteren (im Bemühen um eine Staatsphilosophie).

      Platon, der zweifellos berühmteste Schüler von Sokrates, entstammte einer eher wohlhabenden Familie. Er gründete zudem die erste Philosophenschule Griechenlands (oder gar weltweit?), die Akademie, und versuchte, wenn auch erfolglos, den tyrannischen Herrscher von Sizilien, Dionysios, zu einer umfassenden Staatsreform zu bewegen.

      Insbesondere in seiner Schrift über den Staat offenbart Platon ein Wahrheitskonstrukt, das den klassischen sokratischen Vorstellungen komplett widerspricht. Suchte Sokrates noch nach dem Guten, Schönen und Wahren, so interessiert sich Platon hier vielmehr primär für den wohlgeordneten Staat. Und für die anderen Aspekte gilt es nun, sich diesem neuen höheren Prinzip unterzuordnen. Eigentlich möchte man meinen: willkommen in der Moderne!

      Aus heutiger Perspektive entwickelt Platon jedenfalls Vorstellungen von einem idealen Staat, die für uns eher als von totalitärer Natur erscheinen. So stellt sich Platon zunächst einmal einen Staat vor, der streng hierarchisch zu gliedern sei. Unten stehen die Stände der Erwerbstätigen, darüber die der Wächter und wiederum darüber die der Herrscher. Zur Legitimation dieses Konstrukts bedient sich Platon der Lüge und stilisiert sie zur »edlen Täuschung«19: Dem Volk sollen irgendwelche Mythen erzählt werden, welche ihren jeweiligen Stand als notwendig etikettieren, damit sie sich in ihr Schicksal fügen. Platon stellt sich dabei beispielsweise vor, dazu müsse die Fortpflanzung reguliert werden, und zwar so, dass

      »die besten Männer den besten Frauen möglichst oft beiwohnen müssen, dagegen die schlechtesten Männer den schlechtesten Frauen möglichst selten«20.

      Doch wie soll das gehen? Platon schlägt vor, dass dies durch »geschickte Verlosungen« geschehen solle, d. h., die Herrscher (wer auch sonst!) bestimmen aus eugenischen Gründen, wer mit wem zusammenkommt, und manipulieren die Verlosung.

      Damit verbiegt sich ein erstes Mal in der Philosophiegeschichte ein klassisch konstruktivistisches Argument: Aus der Erkenntnis, dass Wahrheit eine bloße Annahme sei (Xenophanes) bzw. relativ zum Beobachter (Protagoras) oder dass sogar eine grundsätzliche Haltung des reflexiven Nichtwissens (Sokrates) einzunehmen wäre, reklamiert Platon hier schlichtweg eine höhere Wahrheit für sich, der sich alle anderen unterzuordnen hätten. Dafür genügt ihm das vage Versprechen eines »idealen« Staats. Ideal für wen? Für die vielen, die als »schlecht« wahrgenommen werden? Es lohnt sich somit durchaus – siehe nochmals Heinz von Foerster –, sich in kritischer Hinsicht zu Wahrheitsanmaßungen zu verhalten.

      Schlussendlich: Ist Ihnen schon einmal etwas aufgefallen? Nämlich: Warum wird Wahrheit gemeinhin für den eigenen Standpunkt beansprucht und nicht etwa für den eines anderen? Komisch eigentlich, oder? Ich hätte ja wenig Probleme, andere als stärker, geschickter oder klüger zu bezeichnen. Aber näher an der Wahrheit dran? Manche von uns tun dies, aber nur, weil sie ihr Gewissen und ihr Denken in die Hände eines Führers oder Gurus oder irgendeiner Gottesvorstellung legen wollen.

      So verdanken wir Platon zwar, dass wir Sokrates einen prominenten Platz in unserer systemischen Ahnengalerie zusichern konnten – er selbst wird wohl eher draußen bleiben dürfen.

       Die Summe der Teile (Aristoteles)

      Die antike Philosophengeschichte lässt sich aus unserer heutigen Perspektive auch als eine Abfolge von Lehrer-Schüler-Beziehungen lesen. In Platons Dialogen zählt Sokrates gleich eine ganze Reihe von Lehrerinnen und Lehrern auf, die ihn beeinflusst haben: Mit Aspasia und Diotima befinden sich in der damaligen feudalistischen und eigentlich noch prä-demokratischen Zeit sogar zwei Frauen darunter, der Bezug zu Xenophanes und Protagoras wurde bereits erwähnt. Platon wiederum steht in direkter »Schülerschaft« zu Sokrates, allerdings nicht als Einziger. Bis heute (wenn auch eher als Karikatur) bekannt ist beispielsweise Diogenes von Sinope (»Das ist der mit der Tonne«), Begründer der damals einflussreichen Schule der Kyniker.

      Unter Platons Schülern wiederum sticht insbesondere Aristoteles (384–322 v. Chr.) hervor. Ihn als bloßen Platonschüler zu etikettieren würde allerdings deutlich zu kurz greifen, begründete Aristoteles doch mit seiner Unterscheidung theoretischen, praktischen und poetischen Wissens letztendlich das moderne Bild der Wissenschaften. Zudem ist ihm, wenn auch in etwas verklausulierter Form, eine wesentliche Erkenntnis zur Idee des Systems selbst zu verdanken.

      Aristoteles

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