Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens. Wolfram Lutterer
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Erstaunlich an dieser reflexiven Moralvorstellung ist, dass sowohl die guten als auch die schlechten Taten nicht nur als notwendig angesehen werden, sondern darüber hinaus für die Erkenntnis selbst sich wechselseitig bedingend. Hildegard argumentiert hier in einer ganz ähnlichen Weise wie beispielsweise Laozi, dessen Schriften sie jedoch wohl eher nicht gekannt haben wird.
Die insgesamt von ihr entwickelte Gesamtschau auf Mensch und Welt gipfelt schließlich in einer Darstellung der Welt in Gestalt eines großen Rades mit sechs konzentrischen Kreisen, die verschiedene Aspekte von Licht, Feuer, Wasser und Äther symbolisieren. Inmitten dieses Rades über alle sechs Kreise sich erstreckend: der Mensch, nicht Gott.
Das Verbundenheitsgefühl von Mensch und Welt, dem Hildegard von Bingen Ausdruck verleiht, steht im Rahmen dieses Buches stellvertretend für Einsichten in Gestalt einer Art von systemischer Alltagsweisheit einer allumfassenden Verbundenheit. Manche mögen derartige Alltags- oder Volksweisheiten belächeln; die Ironie der Geschichte besteht jedoch darin, dass ihnen bereits ein frühes Verstehen von Ökologie im Sinne einer »harten« Naturwissenschaft innewohnt.
Dies wiederum lässt Sichtweisen wie diejenige von Hildegard als moderner und wissenschaftlicher erscheinen denn so manch anderen, konkurrierenden Weisen der Weltwahrnehmung, in der die Welt beispielsweise eher als Ansammlung von Entitäten wahrgenommen wird. Die Idee einer Verbundenheit, wie sie Hildegard von Bingen entwickelt, ist mit Sicherheit nicht so naiv, wie es zunächst den Anschein haben mag, sondern stellt bereits eine gereifte Wirklichkeitswahrnehmung dar.
4Ambivalenzen der Neuzeit
In der Neuzeit werden nun viele der Ideen, die bis heute unser Denken und Handeln prägen, in ihrer modernen Form entwickelt oder zumindest vorformuliert. Bereits im Jahre 1620 spricht Francis Bacon von einer »neuen Wissenschaft«. Darin fordert er, das Experiment als zentrale Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis zu nehmen und nicht bloß althergebrachten Lehrmeinungen nachzufolgen. Das Unternehmen der modernen Wissenschaft gewinnt damit seine Gestalt.
Parallel dazu verdichten sich die Widersprüchlichkeiten von nunmehr sichtbar konkurrierenden Denkweisen. Was sich in der Antike bereits angedeutet hat, nimmt nun die Form an, die bis heute hin fortwirkt: in all der Ambivalenz zwischen technischem Fortschritt und einer genuinen Blindheit für breiter angelegte Zusammenhänge.
Doch wann beginnt die Neuzeit? Genauer: Wann lassen wir sie beginnen? Vielleicht in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, denn dort treffen wir auf gleich zwei große Wegmarken in der menschlichen Geschichte: die Erfindung des Buchdrucks um 1450 sowie die »Entdeckung« Amerikas im Jahre 1492. Ersteres sorgte für eine rasche Verbreitung von Informationen und Wissen, Letzteres veränderte eine ganze Reihe von Horizonten.
Aus der Vielzahl an Denkern aus einem Zeitraum, der bis in das 19. Jahrhundert hineinreicht, wurden hier nur derer fünf ausgewählt. Sie stehen paradigmatisch für miteinander konkurrierende philosophische Traditionen. Für den Konstruktivismus und die Systemik werde ich Ideen von Vico, Kant und Hegel erläutern. Für zwei Typen dagegen opponierender Denkweisen werden Descartes und Nietzsche benannt. Entsprechend der Chronologie der Dinge bilden Letztere hierbei einen Rahmen für Erstere. Beginnen wir also mit Descartes und enden mit Nietzsche, und ich nehme mir weiterhin die Freiheit der Auswahl. Alle fünf Autoren lassen sich nämlich durchaus auch anders lesen, wenn man anderen Aspekten ihres Denkens den Vorrang gibt.
Dualismus (René Descartes)
René Descartes (1596–1650) stammt aus dem kleinen französischen Örtchen La Haye en Touraine, das in der Region des Loire-Tals liegt. Gelebt hat er jedoch vor allem in Paris, in den Niederlanden und zuletzt in Stockholm.
Eine der großen philosophischen Fragen, die Descartes beschäftigten, bestand darin, dass unsere Sinneswahrnehmungen uns betrügen können. Die ganze Welt als eine Fata Morgana? Dies ließ ihn geradezu verzweifelt nach einem sicheren Kriterium für eine unumstößliche Wahrheit suchen. Descartes ist der große Sucher nach erkenntnistheoretischer Sicherheit.
Das zentrale Problem für ihn bestand darin, dass er all die Erkenntnisse bezweifelte, die unser Wahrnehmungsvermögen erst ermöglicht. Unsere Sinne seien trügerisch, denn sie können getäuscht werden. Daher ist ihnen zu misstrauen. Unmöglich also, dass sie einen verlässlichen Boden für sicheres Wissen bieten können.
Wäre Descartes diesem Zweifel in einer anderen Weise begegnet, und hätte er nicht derart verzweifelt nach einer felsenfesten Form von Wahrheit gesucht, wäre er vielleicht sogar zu einem Konstruktivisten geworden. Seine Feststellung jedoch, dass unsere Sinne uns täuschen können, bedeutete für ihn bloß, dass man ihnen gar nicht erst trauen dürfe.27
Welcher Instanz aber stattdessen Vertrauen schenken? Für Descartes war der gesamte Körper also ausgeschlossen. Somit blieb für ihn nur noch der Geist, die Vernunft. Seine daraufhin entwickelten Ideen setzen eine zentrale Wegmarke in der langen Tradition der Aufspaltung und des wechselseitigen Ausspielens des menschlichen Körpers gegen seinen Geist. Wenn wir eine Ahnengalerie des Reduktionismus aufbauen wollten, so gebührte Descartes gewiss ein prominenter Platz.
Im Rahmen seiner sechs »Meditationen« entwickelt er eine philosophische Position, die sich als radikale Gegentheorie sowohl zu systemischen als auch zu konstruktivistischen Denkweisen lesen lässt. Seine Argumentation zeichnet sich hierbei übrigens durch eine bewundernswerte Klarheit aus. Umso leichter wird es sein, den zentralen Fehlschluss in seinem Denken aufzuzeigen.
Descartes betont also die bis heute vielerorts zwar gebräuchliche, wenn auch fatale radikale Trennung von Körper und Geist. Den Körper versteht er im Gegensatz zum Geist als teilbar. Der Geist – bzw. die Seele – hingegen sei notwendigerweise unteilbar. Für ihn folgte daraus unter anderem, dass »aus der Zerstörung des Körpers nicht die Vernichtung des Geistes folgt«28. Denn der Geist, d. h. die Seele, sei unsterblich, und das Dasein Gottes ist für ihn kein Glaubensartikel, sondern wird als bewiesen angesehen. (Aber worin bestünde dann der Sinn des Glaubens?)
Immerhin flirtet Descartes mit konstruktivistischen Sichtweisen. So formuliert er – durchaus konform mit moderneren Einsichten –, dass der Körper letztlich nicht bloß durch die Sinne oder durch die Einbildungskraft erkannt wird, sondern durch den Verstand, also dadurch, dass man den Körper denkt.29 Aber daraus zu folgen, dass wir damit erst lernfähige Wesen sind und dass dies daher gar nicht so schlimm ist, das liegt ihm fern. Descartes glaubt, dass es Wahrheit ganz einfach geben müsse. Und da es sie in der dinglichen Welt nicht geben kann (womit er im Übrigen deutlich weiter ist als die vielen kruden Reduktionisten und »Realisten« nach ihm), so verbleibt ihm nur noch Gott.
Damit nimmt nun aber das philosophische Unheil erst so richtig seinen Lauf. Descartes müht sich gar nicht erst damit ab, sich selbst als ein gewordenes Wesen zu begreifen. Er scheint nie wirklich Kind gewesen zu sein. So erklärt er selber sinngemäß sogar, dass seine Eltern ihn zwar körperlich erzeugt hätten, sein Geist sei jedoch allein von Gott gekommen und habe sich offenbar in seinem wachsenden Leib einfach »irgendwie« entfaltet. Und da dieser Geist zudem unteilbar zu sein hat, gibt es keinen Platz mehr für innerpsychische Differenzierungen. So einfach kann man es sich machen.
Damit aber stellte sich Descartes als Urahn des Dualismus (also der Trennung von Körper und Geist) gleich eine doppelte Falle: Zum einen führte sein