SELBST-geführte Psychotherapie. Uta Sonneborn
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Ein hundertprozentiges Selbst wird ein normal sterblicher Mensch auf Erden niemals erreichen. SELBST können wir nicht machen. Anstrebenswert ist es jedoch, die SELBST-Qualitäten immer wieder in sich zu erkennen, sie aufzuspüren, sie zu fühlen, zu erleben und ihnen einen möglichst großen Platz im Leben einzuräumen, auf dass sie SEIN können. Das gelingt, wenn wir Zustände unterscheiden können, in denen wir Teile-geleitet unterwegs sind, um dann möglichst bald die Teile zu bitten, wieder uns SELBST die Leitung unserer Geschicke in die Hände zu geben.
Übung
Vielleicht haben Sie ja Lust, sich einen Moment Zeit zu nehmen für eine kleine Übung? Dann bitte ich Sie, einmal kurz innezuhalten.
Schenken Sie Ihrem Atem für vier bis fünf Atemzüge Ihre Aufmerksamkeit. Einfach nur wahrnehmen, wie er selbstverständlich kommt und wieder geht, von woher er sich schöpft, und wo er sich überall ausbreitet in Ihrem Körper. Nur wahrnehmen, nichts bewerten.
Spüren Sie für jeweils drei Atemzüge Ihre Füße im Kontakt mit dem Boden, Ihren Körper im Kontakt mit der Fläche unter sich, Ihre Arme an Ihrem Körper und die Hände im Kontakt mit was auch immer (mit sich, den Beinen, der Stuhllehne, dem Boden) – nehmen Sie wahr, dass der Boden Sie selbstverständlich trägt?
Und dann lade ich Sie ein, sich zum Beispiel einfach mal vorzustellen, wie es ist, sich mit irgendetwas in der Natur, oder mit einem Wesen, bei dem Ihr Herz sich öffnet, verbunden zu fühlen, ohne etwas zu beabsichtigen.
Wenn Sie sich im Kontakt fühlen – mit dem Atem, mit der Schwerkraft, mit der Natur, registrieren Sie mal, wie schauen Ihre Augen in die Welt? Welchen Gesichtsausdruck können Sie an sich wahrnehmen, wie fühlt sich Ihr Mund an? Welche Körperhaltung nehmen Sie unwillkürlich ein und wie fühlt sich dabei Ihr ganzer Körper an? Scannen Sie ruhig mal durch. Was erleben Sie in diesem Augenblick der Selbstverständlichkeit, der Verbundenheit an Gefühlen, an Gedanken, an Körpererleben?
Bitte verweilen Sie ein paar Atemzüge.
Und wenn Sie sich aus dieser Haltung heraus einer Teilpersönlichkeit von Ihnen zuwenden, in dem tiefen Wissen, sie ist ein Teil von Ihnen, sie gehört zu Ihnen, sie ist mit Ihnen verbunden – was erleben Sie dann?
Im Alltag und in der Therapie finde ich es ausgesprochen praktisch und hilfreich, Selbstqualitäten, kurz eben das Selbst genannt, immer wieder von den Teilen unterscheiden zu können, und mich täglich darin weiter zu üben, als Mensch und als Therapeutin. Und auch die Klienten darin zu unterstützen, mehr und mehr aus sich SELBST heraus achtsam mit ihren Teilen in Kontakt zu treten. In Selbstqualitäten unterwegs zu sein ist leicht und nicht anstrengend, für sich selbst und für die anderen Menschen in seiner Umgebung. Achtsamkeit und Meditation können förderlich wirken, mehr SELBST und mehr von seinen Teilen zu erleben und zu erfahren.
Die Teile
Die menschliche Persönlichkeit besteht natürlicherweise aus einer unbegrenzten Anzahl von Teilpersönlichkeiten. Die Teilpersönlichkeiten, kurz Teile genannt, stellt man sich am besten als reale Persönlichkeiten vor, mit Alter, Charakter, Eigenheit, Besonderheit, Eigenschaften. Sie handeln unter- und miteinander, wie reale Menschen es auch tun, und sind in bestimmten Strukturen und Systemen miteinander verwoben. Auf unterschiedliche Art und Weise machen sie sich intern bemerkbar: als Gedanken und Gefühle, als Körperempfindungen und Körperwahrnehmungen, als körperliche und seelische Symptome, als Muster, als innere Bilder, Fantasien, interne Stimmen, Töne etc. Sie wollen in einem nicht extremen Zustand prinzipiell etwas Gutes für ihren Menschen und wenden alle möglichen Strategien an, um Einfluss im System zu bekommen. Wenn sie nicht mit uns SELBST verbunden sind und sich störend oder als Symptome in unserem gegenwärtigen Leben auswirken, sind sie meist in der Vergangenheit stecken geblieben. Sie spielen noch ihre Rollen in unserem alten Film. Sie entwickeln ein komplexes Interaktionssystem untereinander. Polarisierungen entstehen, wenn bestimmte Teile zu mehr Einfluss gelangen wollen und wenn das Selbst mit einem der Teile identifiziert ist. Teile werden durch Erfahrung beeinflusst, aber nicht durch sie geschaffen. Sie existieren schon immer, entweder als Möglichkeit oder bereits ausgeformt. Teile, die extreme Rollen übernommen haben, tragen »Lasten«, wie Überzeugungen, Glaubenssätze, Energien, Gefühle, Fantasien, Familiengeheimisse, die sie in den extremen Situationen übernommen haben, die der ursprünglichen Aufgabe des Teils jedoch nicht entsprechen und nicht zu der Natur des Teiles gehören. Die Teile können darin unterstützt werden, sich zu entlasten und zu ihren ursprünglichen Aufgaben zurückzukehren. Sie finden dann ein neues Gleichgewicht. Haben sie die extreme Rolle oder die Bürde abgelegt, kann ihr eigentlicher Charakter zum Vorschein kommen und der Teil dem Menschen verbunden sein. Aus einem quälend zwanghaften Teil wird so zum Beispiel ein sinnvoll ordnender; er ist dann von der Last seines alten Glaubens befreit, sein Mensch würde ohne ihn im Chaos versinken, wenn er nicht so rigide wäre. Teile, die das Vertrauen in das Selbst verloren haben, »verschmelzen« mit dem Selbst oder überwältigen es. Sie glauben dann, sie seien dieser Mensch. Sie tragen die Überzeugung, dass nur sie das System retten und führen könnten. Ihre Bemühungen und ihre Arbeit müssen geschätzt und gewürdigt werden. Und sie müssen das Vertrauen in das Selbst erst wieder lernen. Kann das Selbst wieder aktiv sein, so werden die Teile dem Selbst gerne zuarbeiten. Sie werden das Selbst zwar beeinflussen wollen, letztlich jedoch seine Führung anerkennen. In diesem entlasteten Stadium werden alle Teile ihre Begabungen entfalten und ihren Platz finden können. Kein Teil soll verschwinden oder ausgelöscht werden. Alle Teile sind dem Selbst willkommen.
Die Teile werden unterteilt in Verbannte (zu beschützende Teile) und in Manager und Feuerbekämpfer (Beschützer).
Verbannte
Schmerzliche Erinnerungen, Gedanken, Gefühle und Körpergefühle, die so sehr schmerzhaft erlebt wurden, dass ihre Beschützer sie unter allen Bedingungen aus dem System dieses Menschen fernhalten wollen, werden mitsamt ihren Lasten und den dazugehörigen Persönlichkeitsanteilen in die Verbannung geschickt. In jeder Familie, Gesellschaft, Kultur und Religion werden Anteile eines Menschen nicht akzeptiert und entwertet, sodass diese – zum Beispiel aus sozialer Anpassung, der Angst vor Bestrafung, Ausgrenzung u.v.a.m. – ins Exil geschickt werden »müssen«. Auch als Frau, als Mann oder intergeschlechtliches Wesen dürfen in den jeweiligen Gesellschaften mehr oder weniger Anteile gelebt oder müssen weggesperrt werden. Das volle Potenzial unserer weiblichen, männlichen, sexuellen Anteile zu integrieren ist wie ein großes Geschenk in der Freiheit. Bei traumatischen, dramatischen Lebensereignissen werden Verletzungen, Entwürdigungen, seelische und körperliche Schmerzen erlebt, was verstörend und belastend wirkt und das ganze innere System in Aufruhr bringt. Teile, die traumatisiert wurden, werden oft vom Rest des Systems isoliert. In diesem Feld sind besonders die Beschützer aktiv, um diese schlimmen Gefühle vom Bewusstsein zu verdrängen oder abzuspalten und das Selbst zu schützen. Sie sind um fast jeden Preis darum bemüht, dass diese schlimmen Gefühle nie wieder erlebt werden. Aber auch die Verbannten werden bei extremer Verletzung und Belastung verzweifelt und darum heftig bestrebt und drängend aktiv sein, Gehör, Verständnis und Entlastung zu finden; sie wollen nicht ausgeschlossen sein und sie wollen auch nicht in ihrer Verbannungskiste ihr Dasein fristen. Wenn wir, vor allem in der Kindheit und Jugend, aber auch im Erwachsenenalter, in unseren sensibelsten, zartesten, spielerischen und unschuldigsten, unseren spontanen, kreativen, sexuellen Anteilen verletzt werden, Entwertungen oder Kränkungen erfahren, dann gibt es Bestrebungen (Beschützer) in uns, diese alle aus unseren Erinnerungen zu streichen, in den Keller unseres Bewusstseins – in die Verbannung – zu verdrängen. Wir (das