SELBST-geführte Psychotherapie. Uta Sonneborn
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Die Ausstrahlung der Behandler*innen und der Klient*innen, die Inhalte und die Art und Weise, wie kommuniziert wird, bestimmen maßgeblich die Atmosphäre, in der ein Gespräch stattfindet. Und sie haben eine Auswirkung auf die Beteiligten. Jeder Mensch reagiert auf diese szenischen, nonverbalen und nur über die Sinne erlebbaren Atmosphären. Man denke nur an den Geruch in einer Zahnarztpraxis oder das aromatische Ambiente in einem Kaffeehaus, wiederum mit meist unbewussten physiologischen und emotionalen Folgen. So können Atmosphären erinnern im angenehmen oder triggern im traumatischen Sinn. Wenn ich zu meinem Gegenüber freundlich und offen eingestellt bin und dies atmosphärisch spürbar wird, kann in ihm eine andere Reaktion erwachsen, als wenn ich ihn abwertend betrachte oder eine negative Meinung über ihn habe.
Ein kleines Beispiel, wie verinnerlichte erlebte Szenen atmosphärisch triggern können: Eine Klientin war verzweifelt darüber, dass sie und ihr Freund sich immer, wenn sie in einem bestimmten Restaurant waren, so existenziell stritten, dass sie ihre Beziehung infrage stellten. Sie saßen immer an ihrem Stammplatz und nahmen auch immer bestimmte Plätze bei Tisch ein. Bei der Bearbeitung dieses Problems stellte sich heraus, dass die Klientin (K) sich in ihrer Herkunftsfamilie zehn Jahre lang jeden Tag beim Essen mit dem Vater aufs Heftigste gestritten hatte. Die Sitzposition am Esstisch war damals dieselbe wie jetzt mit ihrem Partner (P) in dem Restaurant. Die Klientin hatte unbewusst die explosive Tischatmosphäre mit ihrem Vater auf den Freund übertragen. Das Problem mit dem Vater konnte in der Therapie bearbeitet werden. Bei den nächsten Restaurantbesuchen wählten sie eine andere Sitzordnung und der Abend verlief harmonisch. Beide waren sehr erleichtert, dass sie fortan in Ruhe miteinander essen gehen konnten.
Empathie und Zuversicht sind die beiden wirkstärksten Faktoren in der erfolgreichen Behandlung eines Menschen. Sie werden vor allem durch die atmosphärische Haltung und Ausstrahlung, die vorwiegend nonverbal ausgedrückt werden, vermittelt. Ist die verbale Kommunikation mit der nonverbalen in Gestik, Mimik, Haltung, Ausdruck etc. kongruent, werden die Klient*innen und Patient*innen diese Empathie und Zuversicht verstärkt in sich erleben können. (Zur Erinnerung: Von der nonverbalen Kommunikation kommen 50–70 Prozent beim Gegenüber an, von der verbalen Kommunikation 30–50 Prozent.) Sie werden darauf mit einer anderen Haltung und Gestimmtheit reagieren, als wenn sie bewertend oder aus einem Persönlichkeitsanteil der Behandler*innen betrachtet werden.
Zur Atmosphäre und zum Klima in einer Praxis oder einem sonstigen Arbeitsumfeld tragen die dort tätigen Menschen mit ihren Grundstimmungen und momentanen Befindlichkeiten ebenso bei wie ihr Verhältnis untereinander. Auch die Patient*innen und Klient*innen, die an diesem Tag in die Praxis kommen, haben durch ihre Gestimmtheit Einfluss auf die Atmosphäre, zum Beispiel im Wartezimmer. Und auch das äußere Ambiente, die Gestaltung der Räumlichkeiten, die Farben und Formen, die Geräusche und Gerüche, alles wirkt auf die Sinne und prägt die Atmosphäre mit.
Offene, subjektive, geschulte Wahrnehmung
Schon Erich Fromm sah im Menschen die Fähigkeit zur subjektiven Wirklichkeitswahrnehmung, die er außer der Fähigkeit besitzt, die Realität so zu beurteilen, dass sie für ihn lebbar ist. Er betont unterschiedliche Wahrnehmungsresultate durch verschiedene Sichtweisen für ein So-Sein-Müssen oder ein Da-Sein-Dürfen. Schaut er einen Menschen nach bestimmten Kriterien, Stärken, Schwächen, Zielsetzungen oder nach »Gebrauchswert« an (So-Sein), dann entsteht ein funktionalistischer Kontakt. (Im IIFS aus einer Teile-Perspektive). Vermag er den Menschen mit Aufmerksamkeit und Respekt, mit Lust und unter Registrierung seiner Gefühle zu sehen als der, der er ist (Da-Sein), erlaubt »die Fähigkeit zu dieser Art von Wirklichkeitswahrnehmung«, den anderen in seinen tiefsten Wurzeln und in seinem ganzen Wesen zu erkennen. (Diese Beschreibung hört sich im IIFS nach SELBST an). Dazu muss er präsent sein und die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung haben, was eine Voraussetzung für ein sich Einfühlen in den anderen ist.
Diese Erkenntnis hatte er viele Jahrzehnte, bevor Daniel Siegel die faszinierende Welt der psychotherapeutischen Neurobiologie den interessierten Kolleg*innen näherbrachte und, neurophysiologisch begründet, für eine innere Ausbildung der Kunst der Achtsamkeit, der Präsenz, Offenheit und Selbstwahrnehmung, der Einfühlung in sich selbst und die anderer Menschen warb. Aus u. a. diesen therapeutischen Qualitäten heraus, die sehr den SELBST-Qualitäten im IIFS entsprechen, resultieren Erfolge in Therapien.
Wenn die subjektive Wirklichkeitswahrnehmung selbst bei einem Menschen unter verschiedenen Vorzeichen unterschiedlich ausfallen kann, was geschieht dann, wenn zwei Menschen sich begegnen? Therapeuten/Ärzte und Klienten/Patienten zum Beispiel? Oder Mann und Frau? Oder Eltern und Kinder? Oder? Und wenn wir hier schon die Denkweise der IIFS vorwegnehmend mit einbeziehen: Ist es nicht spannend zu erfahren, welche unserer Persönlichkeitsanteile auf die Persönlichkeitsanteile von anderen Menschen reagieren, und was es zu erleben gibt, wenn der Kontakt, die Begegnung und die Beziehung durch Selbstqualitäten geprägt sind?
Und dann stelle ich mir die Frage: Mit welcher Wahrnehmungsschulung werden Ärzte und Therapeuten in ihrer Ausbildung ausgestattet? Wie oft stellen Ärzte und Therapeuten ihre eigenen Wahrnehmungen über die Patienten und Klienten und sich selbst infrage? In einer Arbeit, die die Kunst der Wahrnehmung in der Gesprächsführung von Ärzten beleuchtet und sie nach ihren Wahrnehmungen gefragt werden, zeigt sich in der Mehrzahl der Fälle ein Dilemma.2 Die wenigsten Behandler konnten subjektive und objektive Wahrnehmung, Interpretation, Meinung und Ansicht, Deutung und Hypothesen im Gespräch sauber voneinander trennen, geschweige denn unterschiedliche Therapieschulen voneinander unterscheiden oder anwenden. Ärzte zeigten sich in Gesprächssituationen oft in einer besserwisserischen Grundhaltung. Michael Balint bezeichnete dies ironischerweise als »Apostolische Funktion« des Arztes. (Im IIFS würden wir von einem missionarischen, besserwisserischen Teil sprechen.) Ärzte und Ärztinnen haben gelernt, dass sie die Experten für Gesundheit sind, Patienten erleben sich ihnen gegenüber oftmals in unterlegener, kindlicher Haltung. Damit sich auch Ärzte und Patienten menschlich auf Augenhöhe begegnen und ein wirkliches Gespräch miteinander führen können, ist eine Schulung der Wahrnehmung bei sich selbst und bei seinem Gegenüber eine wesentliche Voraussetzung. (Siehe auch Teil 4 zu den Ärzt*innenteilen.)
Hier haben die in der Selbsterfahrung geübteren Psychotherapeut*innen den Ärzt*innen gegenüber sicherlich einen großen Vorteil bezüglich des Wissens und Erprobens in Wahrnehmung und Selbstreflexion. Die achtsame Wahrnehmungsschulung mit der Unterscheidung von Ich und Du macht eine dialogische Begegnung und eine professionell partnerschaftliche Therapeuten-Klienten- oder Arzt-Patientenbeziehung erst möglich. Das kann für alle nur gewinnbringend sein. Haltung und Methode der IIFS bringen hier eine weitere Spezifizierung und Vertiefung.
Selbstverantwortung
Selbstverantwortung dient als gute Voraussetzung, sich selbst und die anderen besser kennenzulernen, beide gleichwertig in ihrer individuellen Wirklichkeit anzuerkennen und Verantwortung für sich und sein Innenleben zu übernehmen. Ich bin ich und du bist du. In den Gestalttherapieausbildungen wird immer wieder dieser schönen Satz gesagt: »Ich bin ich und du bist du, und an unseren Grenzen erleben wir den Kontakt. Dort kann etwas Neues entstehen, da können wir uns begegnen.« Dazu gehört, dass wir als Menschen uns gegenseitig wertschätzen in unserem Da-Sein und die eigenen Grenzen und die des Anderen respektieren. Im Kontakt mit Klient*innen und Patient*innen kann so eine gemeinsame Arbeit beginnen.
Auf der Subjektstufe eröffnet eine derart geschulte Selbstwahrnehmung, in der ich gleichermaßen das bin, mit dem ich in meinem Inneren in Kontakt trete, neue Dimensionen der Innenräume und legt gleichzeitig die Verantwortung für sich selbst nahe. Ich bin in Kontakt mit meinem Herzen, also bin ich auch mein Herz und