GLOBALE PROVINZ. Georg Rainer Hofmann

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GLOBALE PROVINZ - Georg Rainer Hofmann

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mussten wir erkennen, dass bereits recht viele und wichtige geisteswissenschaftliche Erkenntnisse vorlagen. Aber offenbar hatte bisher noch niemand die genaue Geometrie der im Fresko verwendeten Zentralperspektive untersucht. Für Bätschmann war das nicht erstaunlich, lern(t)en doch Kunstwissenschaftler rein gar nichts über die Mathematik und genauen Methoden der Perspektive in ihrem Studium. Also machten wir uns zuallererst an die exakte Rekonstruktion der dreidimensionalen Darstellung im Fresko, wo in einem Raum 57 Personen dargestellt sind.

      Es stellte sich heraus, dass Raffael erstens zwei Perspektiven miteinander verquickt hatte: Eine für die Raumteile vor der großen Treppe, eine zweite für die Raumteile hinter der Treppe. Diese virtuose Perspektiventechnik, die Raffael und seine Mitarbeiter vollkommen beherrschten, erzeugt eine quasi-filmische Annäherungsbewegung des Betrachters. Man wird, auf das Fresko schauend, regelrecht in dieses hineingezogen. Und zweitens fanden wir, dass der Doppelstern, den Ptolemäus rechts vorn auf seiner Tafel konstruiert, kein Davidstern ist, wie dies die Kunstwissenschaft bisher ohne weiteres Nachzudenken angenommen hatte. Es ist vielmehr eine Kombination von Dreiecken aus den Platonischen Körpern, was eigentlich kein Wunder in einer Schule von Athen sein dürfte.

      Was damals durch die computergraphische Visualisierung der geometrischen Daten der »Schule von Athen« erkannt wurde, war die Tatsache, dass das Doppeldreieck des Ptolemäus isomorph ist zum Doppeldreieck der Fußpunkte der wichtigsten Menschenfiguren im Fresko. Diese Erkenntnis war nur möglich geworden durch den Perspektivenwechsel mithilfe der Algorithmen der Informatik. Das war ein absolutes Novum in der Analyse der »Schule von Athen«, welches ohne Computergraphik verborgen geblieben wäre. Auf philosophischer Ebene gewannen wir so einen weiteren Beleg dafür, dass die sogenannte »ganze Wahrheit« als ein Integral der möglichen Perspektiven gesehen werden muss. Diese Erkenntnis, das Yoneda-Lemma der Kategorientheorie, war nun besser sichtbar geworden. Das durch den Einsatz von komplexen Algorithmen errechnete Integral war der klassischen Kunstwissenschaft vorher unzugänglich.

      Diese Resultate des Darmstädter Raffael-Projektes aus der Mitte der 1980er-Jahre sind und bleiben ein fundamentaler Fortschritt im Bestreben, das große Ganze, welches durch das »dis-capere« der Disziplinen zerschnitten wurde, wieder zusammenzufügen.¶

      Schon Ende der 1970er-Jahre gab es in den USA an der University of Rochester im US-Bundesstaat New York eine Beschäftigung mit der sogenannten »constructive solid geometry« (CSG). Man hatte eine Beschreibungssprache und ein System namens »PADL-2« (Part and Assembly Description Language Version 2) entworfen. Das PADL kannte primitive, geometrische Objekte (wie Quader, Kugeln, Kegel etc.) und konnte daraus per mengentheoretischer Operationen (Vereinigung, Schnitt etc.) neue komplexere Objekte im Rechner synthetisieren. Detlef Krömker meinte, dass die zur Verfügung stehende Version PADL-2 für unser Raffael-Projekt eingesetzt und benutzt werden könnte – im Informatiker-Deutsch sagte man dazu wohl »hingebogen werden könnte«. Eine computergraphische Darstellung von menschlichen Körpern war damals schon sehr(!) ungewöhnlich. Es war eine schwierige Frage, wie das mit einem CSG-System und seinen primitiven geometrischen Formen möglich sein sollte.

      Mazzola hatte auf der Mathildenhöhe in Darmstadt ein Sperrholzmodell der von Raffael dargestellten Szene aufgebaut. Darauf platzierte er hölzerne Gliederpuppen, die auch im Zeichenunterricht als Modell benutzt werden. Diese konnte er vom korrekten perspektivischen Betrachtungspunkt anvisieren. Mit solchen Holzpuppen wurden die Figuren im Fresko nachgestellt, die Gelenkwinkel der Gliedmaßen gemessen, und diese Daten wurden dann über PADL-2 modelliert und visualisiert. Die Herstellung von »Bildern« von unseren Berechnungen war eine Sache für sich. Das PADL-2 konnte Vektorbilder als Strichzeichnungen erzeugen, die man mit einem Plotter auf Papier zeichnen lassen konnte. Neben diesen eher technischen Zeichnungen sollten aber auch Farbbilder für das Exponat für die Ausstellung her, also digitale Bilder, farbige Rasterbilder, die aus Pixeln aufgebaut waren. PADL konnte so etwas als »shaded pictures« berechnen und in einer Auflösung von 512 mal 512 Bildpunkten in einer Datei abspeichern.

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      Titel der Springer-Publikation »Rasterbild-Bildraster« vom Sommer 1986.

      Sehen oder zeigen konnte man so ein Bild, einen »Frame«, damit noch lange nicht. Die Datei mit dem Rasterbild wurde dann vom Siemens-Zentralrechner per Telefonmodem auf einen Spezialrechner bei GRIS übertragen, und in einem »frame buffer« gespeichert. Daran war ein Farbmonitor angeschlossen und man konnte – bitte sehr! – das Bild endlich wirklich sehen. Denn dieser Monitor, mit einer klassischen Braunschen Röhre ausgestattet, konnte tatsächlich ein farbiges Rasterbild darstellen. Normale Computermonitore zeigten nur Zeichen monochrom in Grün oder Orange. Das Ganze kostete pro Frame leicht mehrere Stunden Aufwand. Bilder für die Ausstellung brauchten aber noch eine »Hardcopy« – zum An-die-Wand-Hängen.

      Für ausstellungsfähige Bilder wurde eine 35-mm-Kleinbildfilm-Fotokamera mit Teleobjektiv auf einem Stativ in einiger Entfernung vor dem Monitor platziert. Das Teleobjektiv milderte die kugelförmige Verzeichnung des Bildschirms. Das Stativ brauchte man, weil es einige Sekunden Belichtungszeit pro Aufnahme benötigte, um das Flimmern des Monitors zu eliminieren. Und so wurden Foto-Negative und auch Vortragsdias unserer Rechenergebnisse fabriziert. Es gab ja noch keine Beamer oder gar große LED-Monitore, also projizierte man in der Symmetrie-Ausstellung eine Diashow mit klassischen Projektoren auf eine Leinwand. Ein Übernehmen der Bilder in ein digitales Dokument, etwa als Abbildung in einer Textdatei, war damals noch völlig utopisch. Das wurde erst möglich mit der Entwicklung der »Architekturen Offener Dokumente« (ODA), wie sie im Kontext des BERKOM-Projekts einige Jahre später erfolgen sollte.

      Für das Erstellen von Diaschau-Bildern mit »Textelementen«, Schrift oder Formeln, wurde die mit einem Laserdrucker ausgedruckte entsprechende Papierseite mit schwarzer Schrift auf einem Repro-Fototisch durch ein Gelbfilter aufgenommen. Das 35-mm-Negativ zeigte dann weiße Schrift auf blauem Grund. Dieses Negativ konnte im Vortag wiederum quasi als ein Dia gezeigt werden. Und dieses »Weißauf-Blau«-Schriftbild war damals schon schick. Wegen des Raffael-Projekts war ich quasi »ständig« im Institut GRIS. Professor Encarnação genehmigte mir sogar einen Büroarbeitsplatz mit einem eigenen Telefon auf dem Schreibtisch. Das Telefon war bis zur Mitte der 1980er-Jahre wohl das wichtigste Kommunikationsmittel im Büro. Es hatte eine Wählscheibe und war grau – das Fabrikat »Siemens FeTAp 611« hieß daher auch die »Graue Maus«. Dieser Büroarbeitsplatz mit Telefon war ein damals fast unglaubliches Privileg für einen Hiwi-Studenten.

      In der Rückschau fällt das fast »niedlich« zu nennende Arbeits- und Prozess-Tempo in der Mitte der 1980er-Jahre auf. Man hatte an einem normalen Arbeitstag eine um Längen geringere Ereignis- und Termindichte zu bewältigen als dies viele Jahre später der Fall war. Das Telefon war das einzige Echtzeit-Medium, die Briefpost hatte eine Reaktionszeit von einigen Tagen. Das Telefax war noch nicht alltäglich und überall in Gebrauch. Drängte ein Kooperationspartner auf eine versprochene Zuarbeit, so konnte man ihn am Telefon vertrösten, das sei schon in der Post. Und man hatte noch den ganzen Tag Zeit, es wirklich zu erledigen und zur Post zu geben.

      Einige der Begleitumstände waren unglaublich provinziell und idyllisch, verglichen mit der »around the clock action«, die die entwickelte Informationsgesellschaft Jahrzehnte später mit sich bringen sollte. Gegenüber des Instituts GRIS in Darmstadt gab es eine Gaststätte »Bayerischer Hof«. Setzte man sich dort zur Mittagszeit an einen Tisch, so wurden ohne Bestellung die Tagessuppe und ein halber Liter Bier – eine »Halbe« – gebracht. Dann gab es ein warmes Tellergericht nach Speisekarte. So eine Mittagspause konnte schon mal gut zwei Stunden dauern. Der Nachmittag hatte, abhängig von der Zahl der zu Mittag konsumierten »Halben«, manchmal eine geradezu lässige Grundstimmung.

      Das Darmstädter Raffael-Projekt zeigte mithilfe der Perspektivenwechsel in der synthetischen dreidimensionalen Szene, dass Raffaels Fresko zwei Perspektiven aufweist, die allerdings den gleichen Fluchtpunkt, aber eine verschiedene Tiefenskalierung haben. Dadurch entsteht eine Dynamik die den Betrachter quasi in das Bild »hineinzieht«. Professor

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