Weiterwohnlichkeit der Welt. Группа авторов

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Zur Sprache kommt aber auch die Verzweiflung über das Scheitern der Emigration seiner geliebten Mutter, die ihr Zertifikat für Palästina ihrem zeitweise in Dachau inhaftierten jüngsten Sohn Georg überlassen hatte und, wie Jonas durch das Rote Kreuz erfuhr, 1942 ins Ghetto Lodz deportiert worden war. Erst 1945, bei seiner Rückkehr nach Deutschland wurde ihm zur Gewißheit, was er befürchtet hatte: daß die Nazis seine Mutter in Auschwitz ermordet hatten – „eine dunkle Geschichte, der große Kummer meines Lebens. Diese Wunde hat sich nie geschlossen“, wie Jonas in hohem Alter sagte.28

      1940 war Jonas Soldat in der First Palestine Anti Aircraft Battery der britischen Armee geworden, 1944 Mitglied der Jewish Brigade Group, mit der er über Nordafrika nach Italien zog29 und im Juni 1945 in Deutschland einmarschierte. Dort erfuhr er die ganze Wahrheit über die Schoah, erhielt in Mönchengladbach Gewißheit über das Schicksal seiner Mutter, stieß auf jüdische Überlebende, die die Begegnung mit den am Davidstern erkennbaren Soldaten der Jüdischen Brigade – „als Siegern, nicht als Märtyrern und Opfern“ – bejubelten,30 machte die Erfahrung der geringen Bereitschaft der Deutschen, sich mit den Verbrechen der Nazis auseinanderzusetzen, und sah, wie er freimütig zugab, mit einem Gefühl der Genugtuung auf seinen Reisen durch Deutschland die zerstörten Städte.31 Als er im November 1945 nach Jerusalem zurückkehrte, lagen hinter ihm die Emigration in eine Welt, die einen vollkommenen Abbruch der Existenz bedeutete, welche das Fundament seiner bisherigen wissenschaftlichen Arbeit gewesen war, und mehr als fünf Jahre Krieg, die auch in seinem Denken eine tiefe Zäsur bildeten.

      Der Kriegsaufruf des Jahres 1939 und der Brief an seinen Cousin sind mehr als bloß zeitgeschichtlich bedeutsame Zeugnisse, die einen Einblick in das Denken und Fühlen vieler deutscher Juden in Palästina während des „Dritten Reiches“ und des Zweiten Weltkrieges eröffnen. Sie sind vielmehr ein bewegendes document humain, ohne das die weitere Entwicklung des Philosophierens von Hans Jonas nach dem Krieg nicht in ihrer Tiefe zu verstehen ist. Die eindrucksvollen Zeugnisse entschlossenen Widerstandes gegen den Sieg des „nationalsozialistischen Prinzips“ und die Vernichtung des Judentums sowie der menschlichen Erschütterung über das Schicksal der Juden in Europa ergeben ganz neue Perspektiven für die Frage nach der Bedeutung von Jonas’ jüdischer Existenz für sein Gesamtwerk. Das gilt etwa für die Passagen, in denen er den „bellum Judaicum“ als „ersten Religionskrieg der Moderne“ interpretiert. Jonas bejahte diesen Krieg vor allem deshalb, weil er darin den „Krieg zweier Prinzipien“ erkannte, „von denen das eine in der Form der christlichabendländischen Humanität auch das Vermächtnis Israels an die Welt verwaltet, – das andere, der Kult der menschenverachtenden Macht, die absolute Negierung dieses Vermächtnisses bedeutet“. Der Nationalsozialismus – als nihilistisches „Heidentum im tiefsten Sinne“ – habe dies begriffen, insofern er „das Christentum als Verjudung der europäischen Menschheit beurteilte und in seinen metaphysischen Antisemitismus einbezog“. Lange bevor christliche Theologie und Kirche, die sich in der Nazi-Zeit auf Grund ihrer antijudaistischen Tradition und ihrer teilweisen Affinität zum „nationalen Aufbruch“ in Deutschland scharf vom Judentum – vielfach sogar von der Hebräischen Bibel – distanzierten und die Juden in Europa schweigend der Verfolgung preisgaben, dies auch nur zu ahnen begannen, beschwor Jonas die wechselseitige religiös-kulturelle Solidarität von Judentum und Christentum, deren Erbe er durch die Inhumanität der Nazis in ihrer Tiefe bedroht sah. Daß diese Solidarität um der Bewahrung auch der säkularen „rational-humane[n] Zivilisation des modernen Europa“ notwendig war, begründete aus seiner Sicht das Paradox, „daß ein bellum christianum zugleich ein bellum judaicum sein kann“. In diesem Zusammenhang betonte er nicht nur den „unverjährten Beitrag“ des Judentums zur „Ethisierung der Menschheit“, zum Schutz der ethischen Tradition der Achtung vor dem Leben des Menschen, sondern ließ mit dem Postulat der gemeinsamen jüdisch-christlichen Grundlagen der abendländischen Kultur ein Motiv anklingen, das etwa in seinen späteren Reflexionen über den Beitrag der jüdischen Tradition für eine Ethik der Verantwortung eine wichtige Rolle spielen sollte.32

      Das zionistisch inspirierte Bewußtsein der Zugehörigkeit zum Judentum, die zeitlebens den Kern seiner jüdischen Identität ausmachte, gewann also für Hans Jonas in der Zeit des Kampfes gegen Nazi-Deutschland und nach 1945, als die ganze Dimension der Vernichtung des europäischen Judentums sichtbar wurde, einen zutiefst existentiellen Sinn: im Emigrantenschicksal des Religionshistorikers, der seine in deutscher Sprache entworfene Gnosisdeutung erst ein Jahrzehnt später vollenden konnte, im Schmerz des Sohnes um seine Mutter, deren Ermordung sein reiches und fruchtbares Leben überschattete und deren Andenken er, fast vierzig Jahre später, sein Nachdenken über den „Gottesbegriff nach Auschwitz“ widmete, sowie im Engagement des Soldaten, der 1944/45 in seinen „Lehrbriefen“ an seine Frau die Kerngedanken seiner – angesichts der Erschütterung nicht nur der Welt, sondern auch der zeitgenössischen philosophischen Denkmodelle – ganz neu entworfenen Philosophie des Lebens konzipierte. Diese als Anhang zu Jonas’Erinnerungen erstmals veröffentlichten „Lehrbriefe“ gewähren Einblick in diese entscheidende Zäsur seines Denkens und können – ähnlich wie im Falle Franz Rosenzweigs, der während der letzten Monate des Ersten Weltkrieges an der Front erste Skizzen seines Werkes Der Stern der Erlösung in Feldpostbriefen entwarf – als früher Ausdruck des „neuen Denkens“ der „Philosophie des Organischen“ gelten. Zugleich dokumentieren sie in ihren wenigen persönlichen Passagen, daß sich der Philosoph von den schweren Erfahrungen der Kriegszeit nicht entmutigen ließ, sondern den Erschütterungen mit tiefgründigem Nachdenken über das Wesen menschlichen Daseins begegnete.33 Die intellektuelle Erkenntnis der Kriegszeit inspirierte Jonas’ lebenslange Auseinandersetzung mit dem Nihilismus und seine philosophische Bejahung des gefährdeten, endlichen menschlichen Lebens inmitten einer wertvollen und am Geist teilhabenden Natur – ein der Erfahrung des Inhumanen abgerungener Denkweg, der später in das engagierte Plädoyer für die „Weiterwohnlichkeit der Welt“ unter den Bedingungen der von selbstverursachten Verhängnissen bedrohten hochtechnisierten Zivilisation mündete. Unübersehbar haben die antinihilistische Stoßrichtung, die Jonas’ gesamtes Denken seit 1945 bestimmte, und die philosophische Leidenschaft, mit der er unablässig den Wert des menschlichen wie geschöpflichen Lebens zu begründen versuchte, ihre Wurzel in seiner intellektuellen Konfrontation mit der in der Schoah gipfelnden nationalsozialistischen Preisgabe alles Menschlichen. Sein Kriegsaufruf und sein Eintreten für Würde und Menschlichkeit lassen sich daher mit einigem Recht als ein untergründig fortwirkendes Ursprungselement seines in den Jahrzehnten nach 1945 entfalteten Denkens interpretieren. Noch in seiner am 30. Januar 1993 gehaltenen letzten Rede in Udine über „Rassismus im Lichte der Menschheitsbedrohung“ erinnerte Jonas in bewegenden Worten daran, daß sich in dem mit Blick auf die Zukunft von Menschlichkeit und Toleranz so überaus trügerischen zwanzigsten Jahrhundert „in einem der Herzländer unserer gerühmten Kultur“ jene „höllische Offenbarung“ ereignet habe, die mehr als alles Frühere „den Titel des Menschen als Ebenbild Gottes in Frage stellt“. Er wagte die Reise nach Udine trotz seines hohen Alters, weil sie ihn an den Ort zurückführte, an dem er das Ende des Krieges erlebt und in den Erzählungen Überlebender von der menschlichen Anständigkeit zahlreicher italienischer Frauen und Männer erfahren hatte, die flüchtende Juden beschützt und vor dem Tode gerettet hatten. Man kann darin ein Zeichen dafür erkennen, daß der Philosoph bis zum Ende seines Lebens von diesem Geschehen in Atem gehalten wurde und darin die fundamentale ethische Verantwortung erblickte, weit über seine eigene Lebenszeit hinaus alle Kräfte der Moralerziehung und Wachsamkeit gegen „diese kaum jemals schlafende Bestie“ der Inhumanität zu mobilisieren.34 Charakteristisch für Jonas’ Denken und sein gesamtes Werk ist, daß er in jener Rede die Erinnerung an die Menschenverachtung der Nazis als Bedrohung aus der Vergangenheit in einen inneren Zusammenhang mit der gegenwärtigen und zukünftigen Bedrohung des Lebens auf der Erde durch die technologische Hybris des Menschen stellte: Die Schoah als Höhepunkt des „Kultes der menschenverachtenden Macht“ und als das fundamentale historische Ereignis des vergangenen Jahrhunderts, so deutete er damit an, ist Ausdruck derselben Indifferenz gegenüber dem Wert des Lebens, die dem zerstörerischen, gedankenlosen oder fatalistischen Umgang mit der natürlichen Umwelt innewohnt, und entsprechend gilt ihr gegenüber – um der Bewahrung menschenwürdigen Lebens willen

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