Was bleibt von kommunikativer Nähe und Distanz?. Группа авторов

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mir nun die Gelegenheit, die Rezeption des Modells Revue passieren zu lassen und die damals gestellte Frage aufzunehmen, ob das Modell heute noch tauglich ist und ob die in dem Modell verankerte dichotomische Trennung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit weiterhin Bestand hat. Zu diesem Zweck werde ich zunächst die „Sogwirkung“ des Modells von Koch/Oesterreicher darstellen und zeigen, welche Resonanz es bis heute insbesondere in der Germanistik erfährt (Abschnitt 2). Dann erläutere ich verschiedene Medienkonzepte, die in der kritischen Diskussion rund um das Nähe/Distanz-Kontinuum und die Unterscheidung von Medium und Konzeption vertreten werden, und lege dar, wie sich die damit verbundenen Schlagworte ‘Medienindifferenz’ und ‘Medienvergessenheit’ hier einordnen lassen (Abschnitt 3). In Abschnitt 4 werden Daten aus der digitalen, interpersonalen Kommunikation vorgestellt, und es wird dafür argumentiert, dass in dieser Kommunikation (z.B. über WhatsApp) keineswegs nur solche Ausdrucksweisen auftreten, die – folgt man der Terminologie von Koch/Oesterreicher – aus der medialen Mündlichkeit in die mediale Schriftlichkeit übertragen wurden. Abschließend werden einige Überlegungen zur Internetmündlichkeit vorgetragen – und damit zu einem Themenfeld, das in der Internetforschung bislang noch wenig Beachtung findet.

      2 Zur „Sogwirkung des Ansatzes“

      Wie in der Überschrift dieses Abschnitts typographisch angezeigt, handelt es sich bei der Aussage, dass das Nähe/Distanz-Modell von Koch/Oesterreicher eine Sogwirkung habe, um ein Zitat. Es stammt aus einem Beitrag mit dem Titel „Neue Medien – neue Schriftlichkeit?“ aus dem Jahr 2007, in dem die Frage diskutiert wurde, ob der Sprachgebrauch in den neuen Medien zu einer neuen Schriftlichkeitspraxis führen wird.1 Zu diesem Zitat sind zwei Bemerkungen erforderlich: Zum einen spricht der Verfasser, Jannis Androutsopoulos, in seinem Beitrag konsequent (und so auch in diesem Zitat) von einem ‘Ansatz’, nicht von einem ‘Modell’. Ich verwende dennoch den Terminus ‘Modell’, da es dieser ist, der sich in der Medien- und Textlinguistik durchgesetzt hat, wenn man auf das Nähe/Distanz-Kontinuum Bezug nehmen möchte. Zum anderen schreibt Androutsopoulos (2007, 80) genauer von einer „Sogwirkung des Ansatzes in der (deutschsprachigen) linguistischen Internetforschung“; durch diesen Zusatz schränkt er den Resonanzraum also auf den vergleichsweise kleinen Ausschnitt der (deutschsprachigen) Wissenschaftsgemeinde ein und bezieht sich in seinen weiteren Ausführungen denn auch vor allem auf germanistische Arbeiten (z.B. von Ulrich Schmitz, Michael Beißwenger, Angelika Storrer, Peter Schlobinski und von mir selbst).2

      Tatsächlich ist es so, dass das Nähe/Distanz-Modell und die Unterscheidung in konzeptionelle Mündlichkeit (Sprache der Nähe) und konzeptionelle Schriftlichkeit (Sprache der Distanz) außerhalb der Romanistik insbesondere in der Germanistik Karriere gemacht hat. Das zeigt auch der Sammelband von Helmuth Feilke und Mathilde Hennig, in dem sich, von einer Ausnahme abgesehen, nur germanistische Beiträge finden.3 Ein Grund für die Popularität des Modells in der Medienlinguistik mag sein, dass es eine eingängige Metaphorik hat (Sprache der Nähe – Sprache der Distanz) und auf einer anschaulichen, intuitiv leicht nachvollziehbaren Grafik beruht. Ein weiterer Grund ist vermutlich der, dass, wie Androutsopoulos (2007, 80) schreibt, im Rahmen dieses Ansatzes „gegenläufige Kombinationen von Medium und Konzeption“ sehr gut erfasst werden können, also z.B. solche Äußerungsweisen, die gerade nicht die für das Medium (sensu Koch/Oesterreicher) prototypischen konzeptionellen Merkmale aufweisen.4 So gilt als ein Charakteristikum von Textnachrichten, die in den (damals) neuen Medien geschrieben wurden und seit Ende der 1990er Jahre in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses rückten, dass sie zwar schriftlich, vom Duktus her aber oft mündlich sind. Was lag da näher, als dieses Spannungsverhältnis mit den Termini ‘medial schriftlich’, aber ‘konzeptionell mündlich’ zu beschreiben und zu versuchen, solche Texte (wie z.B. SMS und private E-Mails) bzw. die dazugehörigen Kommunikationsformen (wie z.B. die SMS- und die E-Mail-Kommunikation) in das Nähe/Distanz-Kontinuum einzuordnen – obwohl das Modell für diesen Zweck gar nicht konzipiert wurde (vgl. dazu Dürscheid 2016, 357–359)?5

      Doch auch dieser Umstand kann nicht der alleinige Grund für die Erfolgsgeschichte sein, denn das Argument ließe sich ja beispielsweise auch für die anglistische Linguistik anführen, wo in den vergangenen zwanzig Jahren ebenfalls viele Arbeiten zum Sprachgebrauch in den neuen Medien publiziert wurden (vgl. z.B. Crystal 2006), in der Regel aber ohne Bezug auf das Modell von Koch/Oesterreicher.6 Helmut Feilke nennt in seinem „Versuch einer erklärenden Rezeptionsgeschichte“ (so der Untertitel seines Beitrags) noch einen weiteren Grund: Er legt dar, dass der Aufsatz von 1985, in dem Koch/Oesterreicher ihr Modell entwickelten, zu einer Zeit erschien, in der – inspiriert durch die Sprechakttheorie – „jedwedes kommunikative Signal“ als Text angesehen wurde (Feilke 2016, 126).7 Vor diesem Hintergrund sei, so Feilke (2016, 126), die breite Wirkung des Modells in der Germanistik (und in der germanistischen Sprachdidaktik) zu sehen: „Gegenüber diesem Zugang […] rehabilitierten Koch/Oesterreicher mit ihrem Aufsatz den durch Merkmale der Distanzkommunikation gekennzeichneten Text, der eben typischerweise ein Schrifttext ist“ (Kursivierung im Original). Denn dadurch richtete sich der Fokus wieder auf solche Texte, die distanzsprachlich-situationsentbunden für sich stehen können (d.h. auf konzeptionell schriftliche Texte). Und das wiederum macht das Modell, folgt man den Überlegungen von Feilke, so attraktiv für den muttersprachlichen Deutschunterricht, in dem bis heute die Erziehung zur (konzeptionellen) Schriftlichkeit eine zentrale Rolle spielt. Tatsächlich werden in den aktuellen bildungspolitischen Debatten rund um die sogenannte Bildungssprache8 die damit erfassten sprachlichen Kompetenzen „vornehmlich in Verbindung zu konzeptioneller Schriftlichkeit“ gebracht (vgl. Fornol 2017, 178).

      Doch auch an diesem Ansatz wird, wiederum mit Bezug auf Koch/Oesterreicher, Kritik geübt: Schneider et al. (2018, 260) stellen in ihrer Studie zum gesprochenen Standard fest, dass man auch in formelleren Kontexten syntaktisch nicht genau so spricht, wie man schreibt. Als Beispiele nennen sie Verbzweitstrukturen nach der Subjunktion weil (vgl. weil ich habe keine Zeit) oder Apokoinukonstruktionen (vgl. Das ist was Schönes ist das), die im gesprochenen Standard völlig unauffällig, im geschriebenen Standard dagegen stark markiert sind.9 Ihr Fazit lautet, dass die Beschreibungskategorie ‘konzeptionell schriftlich’ in Bezug auf gesprochene Sprache „tendenziell irreführend“ sei und dass „die Diskussion über die sogenannte Bildungssprache den Blick auf mediale Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache“ häufig verstelle (Schneider et al. 2018, 260; Kursivierung im Original).

      Das Modell von Koch/Oesterreicher hat in der Germanistik also eine breite Wirkung entfaltet, und auch in aktuellen Publikationen wird immer wieder darauf Bezug genommen. Allerdings gibt es einen Aspekt, der in allen diesen Arbeiten keine Berücksichtigung findet: Koch/Oesterreicher verwenden in ihren Erläuterungen zum Nähe/Distanz-Kontinuum den Terminus ‘Diskurstraditionen’ und betonen, dass ihnen dieser geeigneter scheine als die Termini ‘Gattung’ oder ‘Textsorte’. Sie begründen dies damit, dass der Begriff der Gattung „zu literarisch besetzt“ sei (Oesterreicher/Koch 2016, 14) und sie den Begriff der Textsorte als „zu ‘mechanistisch’-klassifikatorisch“ (Oesterreicher/Koch 2016, 29) ansehen würden. Weiter führen sie aus, dass beispielsweise ein Privatbrief, ein Vorstellungsgespräch oder eine Predigt historisch gewachsene Diskurstraditionen seien, denen prototypisch konzeptionelle Profile zugeordnet werden können, die „variabel-flexible Realisierungen erlauben und damit ein wirkliches Verständnis für die Fortbildung von Diskurs- und Texttraditionen im Gebrauch eröffnen“ (Oesterreicher/Koch 2016, 29; Kursivierung im Original). Sie tragen damit der Tatsache Rechnung, dass sich die Parameterwerte für bestimmte Profile verändern können (wie z.B. für den Privatbrief), diese aber dennoch, synchron wie diachron, in bestimmten Diskurstraditionen stehen.

      Der in germanistischen Arbeiten vielfach verwendete Begriff der Textsorte hat demgegenüber einen eher statischen, klassifikatorischen Charakter, zudem legt dieser Ausdruck eine Fokussierung auf die geschriebene Sprache nahe (weshalb man im Pendant dazu mit Bezug auf die gesprochene Sprache gelegentlich auch von ‘Diskursarten’ spricht; vgl. Dürscheid 2003). Dennoch hat sich der Terminus ‘Diskurstradition’ in der Germanistik nicht durchgesetzt.10 Das sieht man unter anderem daran, dass es in dem (in der Germanistik vielfach benutzten) Metzler Lexikon

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