Der Change-Code. Dieter Lederer
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1.3 Durchhalten bedeutet Stillstand
»Wenn du entdeckst, dass du ein totes Pferd reitest, steige ab«, lautet eine alte Weisheit der Dakota-Indianer. Alles klar, sollte man meinen, das gebietet schon der Tierschutz, erst recht aber die Vernunft. Hätte sich da nicht hartnäckig in unserem Kopf die Überzeugung festgesetzt, dass Durchhalten eine vornehme Tugend sei. Folglich mangelt es uns auch nicht an Ideen dafür, wie wir den Reiter weiter im Sattel halten: »Das Pferd wurde schon immer so geritten«, machen wir nur allzu gerne mit Inbrunst all denjenigen klar, die Zweifel daran hegen. Das Pferd mittels veränderter Kriterien für noch lebend zu erklären, ist eine andere gewiefte Strategie. Sehr beliebt ist auch der Versuch der Wiederbelebung mithilfe einer Taskforce oder mit der Verdoppelung der Futterration. Hilf, was helfen mag.
Die Gefahr, aussortiert zu werden
So amüsant der Blick aufs tote Pferd ist, so wenig wird daraus erfahrungsgemäß für das Handeln in der Praxis gelernt. Nokia entschied sich fürs Durchhalten und damit für das verendende Pferd, Quelle und Neckermann ebenso. Sowie auch viele Unternehmen der Touristikbranche, die weder auf den Trend zur Online-Buchung noch den zur Individualisierung aufspringen wollten. Als Beispiel sei der Reiseveranstalter Thomas Cook genannt, der partout an margenschwachen und kaum individualisierbaren Pauschalreisen sowie am Verkauf primär über Reisebüros festhielt13. Durchhalten und Aushalten stehen offensichtlich hoch im Kurs, das genaue Hinsehen und Bewerten von Chancen und Risiken sowie kritische Fragen dazu weniger. Was macht einen Unternehmer oder Vorstand sicher, dass sein Durchhalten zum Erfolg führt? Was genau macht sein Unternehmen anders im Vergleich zu den anderen Marktteilnehmern, das diese Sicherheit rechtfertigt? Gibt es darauf keine fundierte und nachvollziehbare Antwort, ist wahrscheinlich der Selbstüberschätzungseffekt am Werk, der eine wunderbare Rechtfertigung fürs Durchhalten ist. Die obigen Beispiele belegen es.
Dabei wird meist erst viel zu spät offenbar, dass Durchhalten Stillstand bedeutet und damit die exponentielle Zunahme der Gefahr, vom Markt aussortiert zu werden. Oft gibt es mahnende Stimmen bereits lange vor dem großen Knall, doch sie werden im Trubel des Tagesgeschäfts überhört oder von besonders überzeugten und lauten Verfechtern des Status quo mundtot gemacht. Sich mit einer kritischen Betrachtung und der zugehörigen Argumentation auseinanderzusetzen, ist unbeliebt. Nicht selten macht dabei gar das böse Wort vom »Nestbeschmutzer« die Runde. Selbst der eigenen Intuition entspringende Mahnungen werden bevorzugt mit Beruhigungs- und Weitermachphrasen eingelullt, ansonsten müssten wir uns ja eingestehen, dass wir auf dem Holzweg sind – die Selbstüberschätzung lässt erneut grüßen.
Mehr als drei Viertel aller Transformationsprogramme liefern entweder gar nicht oder nur zum Teil.
Investitions-Reue
Den Durchhalte-Effekt gibt es nicht nur bei Geschäftsmodellen und deren Lebenszyklus. Auch Transformationsprogramme sind häufig Opfer davon. Sind sie erst einmal mit großem Getöse und euphemistisch aufgeblasenen Erwartungen gestartet, kann uns nichts mehr davon abhalten, sie durchzuziehen. Dass statistisch mehr als drei Viertel davon entweder gar nicht oder nur zum Teil liefern3, scheint unserer Hoffnung auf Erfolg keinen Abbruch zu tun. Das ist einerseits günstig, da die Chancen fürs Gelingen mit dem eigenen Glauben daran steigen. Andererseits ist es hinderlich, da wir allzu leicht und unreflektiert der Überzeugung sind, dass unser Projekt zu dem gelingenden Viertel gehört. Diese Gutgläubigkeit hält sich unerschütterlich auch dann noch, wenn die Ziele wiederholt nach unten korrigiert oder in die Zukunft verschoben werden mussten, wenn Führungskräfte und Mitarbeiter mehrheitlich die Veränderungen durch Nichtstun aussitzen oder wenn offenbar wird, dass nicht einmal mehr der Auftraggeber an den Erfolg des Change glaubt. Letzteres zeigt sich besonders krass, wenn der Sponsor getreu dem Motto »Man erkläre mir, warum ich diese Veränderung wollen soll« die Frage nach dem unternehmerischen Nutzen und seiner eigenen Überzeugung an das Projektteam überträgt. Verkehrte Welt, werden Sie jetzt sagen. Genau so ist es jedoch in der Praxis gar nicht selten.
Treten diese Phänomene auf, stellt sich die zuvor aufgeworfene Frage in neuer Schärfe: Was rechtfertigt das weitere Durchhalten überhaupt noch? Bei Schweigen, Schulterzucken, fragenden Gesichtern oder unbefriedigenden Antworten kann es nur eine Reaktion geben: das sofortige Umsteuern oder Abbrechen. Doch dazu gehört Mut, der oft nicht vorhanden ist. Lieber wird weitergewurstelt und damit die Versagens-Statistik bestätigt. Das ist viel unauffälliger und folglich weniger gefährdend für die eigene Person und Position, auch wenn es sehenden Auges unternehmerischer Unsinn ist. Die »sunk cost fallacy«, also die Höherbewertung vergangener Kosten gegenüber zukünftigen Erfolgsaussichten, spielt dabei ebenfalls eine Rolle (Dobelli, Die Kunst des klaren Denkens, 2011). Wir tappen sehr leicht in diese Denkfalle, weil wir konsistent und glaubwürdig erscheinen wollen sowie zudem Reue gegenüber der bisherigen Investition empfinden, wenn wir diese abschreiben müssen. Doch eine vernünftige Entscheidungsbasis ist das nicht. Idealerweise dürfen vergangene Kosten keine Rolle spielen, sondern ausschließlich die Einschätzung der Zukunftsperspektive. Mit diesem Prinzip bliebe vielen Transformationsprogrammen manch nutzloses Durchhalten erspart, das Ressourcen frisst, ohne ein adäquates Ergebnis zu bringen.
Vorsicht bei Durchhalte-Parolen
Kennen Sie Unternehmen, in denen »pathologische Zustände« herrschen? Die Ursachen dafür sind vielfältig: Kontinuierliche Übersteuerung mit Projekten oder Aufträgen bei signifikant fehlenden Ressourcen für die Abarbeitung ist eines der weit verbreiteten Muster. In der Folge hecheln Mitarbeiter tagein, tagaus ihren Aufgaben hinterher, ohne je fertig zu werden. Dies wiederum nötigt dazu, für besonders wichtige Projekte oder Kunden Taskforces einzurichten, weil deren Bedeutung ablenkungsfreien Fokus und Ressourcen-Exklusivität braucht. Dass dem Rest der Projekte folglich noch weniger Kapazitäten zur Verfügung stehen, während die Stapel auf den Schreibtischen zu Papierbergen werden, liegt auf der Hand. Das ist ein Teufelskreis, der nur an einer Stelle unterbrochen werden kann – bei der Annahme und Einsteuerung von Aufträgen. Doch die meisten Manager entscheiden sich für die Strategie »Augen zu und durch« oder anders gesagt: Durchhalten, koste es, was es wolle.
Sehr beliebt ist auch Mikromanagement, und zwar über alle Hierarchiestufen hinweg. Es geht einfach nichts darüber, sich als Führungskraft mit der eigenen erlesenen Kompetenz und Erfahrung unnötig in die operativen Abläufe, Entscheidungen und Problemlösungen einzumischen. Dass man sich dabei zum Engpass macht? Geschenkt. Dass die Mitarbeiter sich nicht weiterentwickeln, weil ihnen die Verantwortung abgenommen wird? Nicht so schlimm. Dass folglich mehr statt weniger Mikromanagement nötig ist und dieser prekäre Zustand weiter festgeschrieben wird? Aushaltbar. Dass damit die Unternehmens-Performance auf der Strecke bleibt, da nur noch im und kaum mehr am Unternehmen gearbeitet wird? Fällt nicht so schnell auf.
Durchhalten um seiner selbst willen ist keine Tugend, sondern eine Fehlentscheidung.
Sie sehen: Wieder ein Teufelskreis, der sich selbst stabilisiert, wenn er nicht bewusst durchbrochen wird. Dabei ist ganz und gar nicht ausgeschlossen, dass die »illusion of control«