Triaden-Liebchen. Edith Seo
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Wieder läutete es an der Tür. Der Kleinere ging hin und kam mit Jiaozi, chinesischen Maultaschen, zhu shui yu, scharf eingelegtem Sezuanfisch und Reisnudeln zurück. Wir sollten etwas essen. Essen war immer wichtig in China. Beim Essen knüpft man Freundschaften, löst Probleme und beruhigt den Geist. Wann immer man jemandem begegnet, kommt nach der Grußformel zuerst die Frage „Ni chi le ma?“ „Hast du schon gegessen?“ Ich dachte an diese banalen Sätze, die mir das Gefühl gegeben hatten, es ganz weit gebracht zu haben. Viele tausend Kilometer von der Heimat entfernt zu sein und etwas neues zu erfahren. Jetzt sollte ich diese Welt schon wieder verlassen und, was am schlimmsten war, mit Tingting und deren Geliebtem, an einen unbekannten Ort verbracht werden, wo ich wieder niemanden kannte, wo ich das fünfte Rad am Wagen wäre. Gedankenverloren schlürfte ich meine Nudeln. Es war alles sehr fettig, aber mir war nicht mehr schlecht. Wir tranken Reiswein und Jasmintee dazu und es half wirklich, sich ein bisschen zu entspannen. Nach dem Essen warteten wir noch eine Weile. Die beiden Männer telefonierten ab und zu und da ich nichts verstand, kamen mir immer wieder Zweifel, ob hier alles mit rechten Dingen zuging, ob man uns wirklich außer Landes fliegen würde, ob das hier nicht eine Falle war.
Ich hätte weg laufen können, aber was hätte das gebracht. Ich sprach die Sprache nicht, ich war in Shanghai immer nur hinter Tingting hergelaufen und mit ihr in Taxen ein- und ausgestiegen und flupp, waren wir am nächsten Ort. Ich würde ewig brauchen, um mich zu orientieren. Sie wären auf jeden Fall schneller als ich.
Also saß ich wie ein Kaninchen vor der Schlange. Irgendwann, nachdem er ein Telefonat beendet hatte, sagte der Große:
„Es geht los.“ Wir gingen zum Aufzug und fuhren ganz nach oben. Auf dem Dach stiegen wir aus. Ich schwankte. So hohe Gebäude pendeln immer ein bisschen. Das ist das Geheimnis der Statik. Wenn sie ganz fest wären, würden sie ja zusammenbrechen. Wir standen also auf dem Dach und sahen unter uns die hellerleuchtete Shanghaier Nacht. Die Skyline am Bund wurde verschluckt vom gesamten Lichtermeer der Stadt. Soweit das Auge reichte, sah man erleuchtete Fensterfronten.
Aus der Dunkelheit flog etwas auf uns zu. In ca. zwanzig Meter Entfernung landete der Hubschrauber. Geduckt liefen wir hin und die Agenten halfen uns hinein. Vorne sass ein weiterer Mann, er war älter und wirkte besonnen. Sie wechselten ein paar Worte und der Alte gab das Zeichen zum Start. Wir schaukelten los. Mein Magen war immer noch empfindlich, aber in der Aufregung vergaß ich das.
Unter mir schwamm Shanghai. Tingting biss an ihren Fingernägeln und starrte willenlos aus dem Fenster. Claudio beachtete sie nicht. Mir kam inmitten all dieser surrealen Aufregung ein Gedanke. Shanghai war Tingtings Heimat. Hier kannte sie die Regeln, sprach sie die Sprache, war sie wer. Der exotische Ausländer, Claudio, war interessant und aufregend. Wenn wir aber nun woanders hin kamen, war Tingting allein in der Fremde mit einer Deutschen und einem Sizilianer. Unser Exotenbonus würde verblassen, sie würde an Heimweh leiden. Ich ahnte, dass sowohl Claudio als auch ich ihr nun einen Schritt voraus wären. Wir waren beide in Shanghai gewesen, wir hatten unsere Heimat verlassen zugunsten des Abenteuers. Tingting war nur aus der Not, ihrem ersten Mord, heraus nach Europa gekommen. Sie mochte französische Mode und französisches Mineralwasser. Ansonsten war ihr Interesse nicht besonders tief gehend.
Wir flogen zum Hongqiao International Airport, der der Stadt am nächsten lag und stiegen auf dem Flugfeld in einen Learjet um. Claudio, dem die ganze Angelegenheit am wenigsten an die Nieren zu gehen schien, war beeindruckt. Er war Hobbypilot, wie ich erfuhr. Beim Start sah Tingting schweigend und weinend aus dem Fenster, während Claudio mir von dem Modell vorschwärmte. Der Learjet 85, in dem wir hier saßen, sei nigelnagelneu. Er habe eine Reichweite von über 5000 km und könne 900 km/h schnell fliegen. Ich lauschte ihm gespannt, weniger, weil ich mich für die Daten interessierte, als vielmehr, um einen ersten Kontakt herzustellen. Als wir die Reiseflughöhe erreicht hatten, reichte uns der Alte, der mit umgestiegen war, unsere neuen Pässe. Auf dem schwarzen Einband stand großen goldenen Lettern „Canada“, ausgestellt war der Pass laut Auskunft vor einem Jahr und ein paar Monaten in Vancouver. Ein Foto von mir war auch drin und daneben stand: „Nelly del Favero, geboren am 6.8.1985 in Calgary als Nelly Simmons“ Ich blätterte weiter: Da waren mehrere abgestempelte Visa für Saudi-Arabien und ein aktuelles. Ich schluckte. Saudi-Arabien. Was sollten wir da? Als Frau darf man dort nicht mal alleine Autofahren. Claudio öffnete auch seinen Pass. Er war auch Kanadier, geboren allerdings in Damaskus, Syrien. Sein Name war Raffaele del Favero. Wir waren miteinander verheiratet. Ich freute mich heimlich. Andererseits wollte ich auf keinen Fall nach Saudi-Arabien. Man hatte anscheinend auf uns Frauen keine Rücksicht genommen. Ich erinnerte mich, dass Claudio bei der Befragung angegeben hatte, mit seinen Eltern während seiner Jugend mehrere Jahre in Ägypten und dem Libanon verbracht zu haben. Sein Vater sei Ingenieur und so habe er dort gearbeitet. Er spreche deshalb fast fließend Arabisch. Auf diese Weise wollte man uns voneinander abhängig machen und eine Flucht erschweren. In Saudi-Arabien können wir ohne Genehmigung eines Mannes ohnehin nicht ausreisen.
In Tingting´s Pass stand auch ein anderer Name, aber sie hatte einen chinesischen Pass. Man würde dafür sorgen, dass wir uns erst vor Ort offiziell kennen lernten. Claudio und ich aus Kanada kommend, Tingting aus Hongkong.
Irgendwo in Indien landeten wir zwischen und wurden aufgetankt. Dann ging es, immer der Nacht hinterher, gen Westen. An Schlaf war nicht zu denken, in meinem Kopf kreisten alle möglichen Gedanken. Von der Lächerlichkeit des Unterfangens bis zur Realisierung dessen, was passiert war. Kann es wirklich sein, dass ein paar Minuten ein Leben für immer verändern? Wenn die Saudis wüssten, dass bald ein paar internationale Mörderinnen eintrafen, wären sie wohl kaum begeistert. Ich erinnere mich genau an den Landeanflug auf El Riad. Es war kein so strahlender Ausblick wie auf Shanghai. Nach der Landung gab der Alte Tingting und mir jeweils eine Abaya, den Traditionellen Arabischen Umhang. Ich warf mir das Gewand über, zog das Kopftuch an und fühlte mich seltsamerweise gar nicht so, wie ich mich fühlen müsste, unterdrückt und entrechtet, sondern verwegen und abenteuerlich. Ich kam mir vor wie eine entführte Prinzessin in einem Kostümfilm. Den Mord von Shanghai vergass ich zunehmend. Während des Fluges hatte ich eine Art Metamorphose vollzogen. Eine Kurztherapie, Reue und einige Schweigeminuten in denen ich bewusst um den Toten trauerte, dann wieder der Gedanke, dass alles so kommen musste. Inschallah, vielleicht war das ein göttlicher Plan. Vom sündigen Shanghai ins tiefreligiose Arabien. Es half mir sogar, dass ich die schwarze Abaya zu tragen hatte. So konnte ich wenigstens Trauer tragen. Ich stieg Seite an Seite mit Claudio eine Gangway hinab. Der nächtliche Wüstenwind war rau und wehte mir in die Gewänder. Der Alte begleitete uns über den Flugplatz. Er sah auf die Uhr.
„Und Tingting?“ Claudio hatte seine Geliebte nicht vergessen.
„Sie wird mit einer anderen Maschine nachkommen.“
Claudio wirkte beunruhigt, aber er wagte nicht, aufzubegehren.
Wir gingen auf das Gebäude zu. Ein Wachposten kam uns entgegen, wir folgten ihm durch lange erleuchtete Flughafengänge und wurden in eine Schlange gestellt. Der Alte grüßte und verschwand mit dem Wachmann.
Vor uns war eine arabische Familie. Der Sohn trug einen dunkelblauen Collegepullover mit weißem Schriftzug: „University of Victoria“ stand darauf. Wenn ich mich recht besann, war Victoria eine kleinere Stadt auf einer Vancouver vorgelagerten Insel in British Columbia. Dazu trug er ein Baseball-Cap. Er drehte sich um und lächelte Claudio an:
„Hi!“ sagte er und zeigte strahlend weiße Zähne.
„Hi!“ sagte auch Claudio.
Mich beachtete er nicht, oder durfte mich nicht beachten. Mir wurde bewusst, dass er ungefähr unser Alter hatte. Er: Weltoffen und interessiert an westlicher Kultur. Wir: eine Banditenbande aus Fernost. Es ist schon seltsam, wie schnell man die Seiten wechseln