Der dritte Versuch Die Drachenjägerin. Norbert Wibben
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Der Armreif ist aus Bronze und stellt ein Flechtwerk aus Zweigen dar, das ansonsten nicht verziert ist. Cloe erinnert sich, dass es ein Andenken Junas an ihre Mutter ist, von der sie es als junge Elfe bekommen hatte. Irgendeinen magischen Zweck erfüllt der Reif nicht, er besitzt auch keine verstärkende Wirkung auf Zaubersprüche, wie sie weiß. Das hatte ihre Mom gesagt, als sie ihn sich vor langer Zeit gemeinsam angesehen hatten. Aber warum sollte Juna den Schmuck bei ihrem Versuch mit dem Drachengeist tragen?
Cloe bestaunt die ausgefallene Machart des Reifs. Er kommt ihr ungewöhnlich dick vor, anders, als in ihrer Erinnerung. Sie zieht ihn vorsichtig vom Handgelenk der Mutter und betrachtet ihn genauer. Jetzt erkennt sie, dass der Armreif in einem Bereich tatsächlich dicker ist. Sollte er dort einen Hohlraum besitzen? Aufgeregt drückt sie an dem Reif herum und sucht einen Mechanismus, mit dem das Versteck geöffnet werden könnte. Die Zweige lassen sich weder verschieben noch zusammendrücken, das Material ist fest und unnachgiebig. Der Armreif gibt sein Geheimnis auf diese Weise nicht preis. Cloe überlegt und versucht es schließlich mit einem Zauber.
»Aperio«, flüstert sie und hält sofort den Atem an. Der Reif scheint lebendig geworden zu sein. Die einzelnen, schmalen Zweige bewegen sich, lösen das Flechtmuster auf und geben schließlich das verkleinerte Buch frei, das sie umhüllt hatten. Cloe staunt. Das war wirklich eine raffinierte Idee ihrer Mutter. Der Armreif stellt nicht nur ein gutes Versteck, sondern gleichzeitig einen physischen Schutz für das wertvolle Buch dar, denn durch den Feueratem hat es nicht gelitten. Außerdem konnte Juna es so bei sich tragen und jederzeit ein magisches Wesen heraufbeschwören. Cloe legt das Miniaturbuch auf die Zweige zurück und murmelt »Renovo«. Sofort beginnen sie, sich umeinander zu flechten und umschließen gleichzeitig das wertvolle Artefakt. Die Elfe beugt sich zur Mutter hinab und haucht ihr einen Kuss auf die Stirn. »Danke! Ich verspreche dir, ich suche den verfluchten Drachen, der unserer Familie so viel Leid zugefügt hat. Ich werde alles versuchen, um ihn zu vernichten.« Dann schiebt sie sich den Armreif über die Hand, so dass er jetzt an ihrem linken Handgelenk sitzt. Cloe wechselt in ihr Zimmer. Auf ihrem Bett grübelt sie noch kurz, wo sie diesen Drachen finden kann, dann sinkt sie in einen unruhigen Schlaf.
Tante Ainsley
Cloe wacht am Morgen auf und fühlt sich völlig erschlagen. Sofort ist er wieder da, der Kummer um ihre tote Mutter. Oder sollte sie das nur geträumt haben, hofft sie plötzlich wider jede Vernunft. Wenn sie jetzt nach unten in den Wohnbereich kommt, wird sie dann Juna an ihrem Schreibtisch sitzend vorfinden, in das Studium eines Buches vertieft? Sie könnte aber auch in der Küche stehen, und das Frühstück vorbereiten, obwohl das sonst von Cloe übernommen wird. Die junge Elfe fühlt sich völlig gerädert, so, als ob sie lange krank gewesen sei. Da könnte es gut sein, dass ihre Mutter sie mit einem üppigen Frühstück überraschen will.
»Warum gibt es kein Zurück? Weshalb habe ich vorgestern Ainsley besucht und Mom allein gelassen. Wäre ich hier gewesen, hätte ich sie von ihrem wahnwitzigen Versuch abgehalten, oder ihr zumindest schneller helfen und sie dadurch retten können!« Cloe weint hemmungslos und schlägt mit beiden Fäusten aufs Bett. Dabei rutscht der Armreif an ihrem linken Handgelenk hin und her, was schließlich den Blick der Elfe darauf lenkt. Plötzlich steigt eine große Wut in ihr auf. Sie will etwas zerstören, ihre Mutter rächen. Sie setzt sich auf den Bettrand. Ohne lange nachzudenken, murmeln ihre Lippen die Beschwörung und wünschen den Drachengeist herbei.
Zuerst verhält sich diese Kreatur wie sonst auch. Sie demonstriert ihre Eigenarten, ohne aber den Feueratem gefährlich weit von sich zu speien.
»Habe ich dich!«, frohlockt Cloe. Sie richtet ihre rechte Hand auf die kleine, bläuliche Lichterscheinung und spricht mit lauter Stimme »Interemptus es«. Sie sieht zufrieden, wie ein blauer Lichtstrahl auf den Drachen zuschießt, dann sind beide verschwunden.
Die Elfe zweifelt. Sollte ihr Vorhaben geglückt sein? Das wäre dann erstaunlich einfach gewesen. Tief im Inneren ist sie jedoch nicht von ihrem Erfolg überzeugt. Sie müsste jetzt den Drachen erneut herbeirufen. Wenn er nicht erscheint, wäre ihr seine Vernichtung geglückt. Cloe beginnt bereits, die Beschwörung zu murmeln, als sie dann zögernd innehält. Was ist, falls er erneut herbeigerufen werden kann? Wie wird er dann reagieren? Sie denkt daran, wie der Zwerg seine großen Abmessungen behalten hatte, als Juna ihn vergrößerte, bevor er verschwand. Beim nächsten Aufrufen hatte er sie immer noch, bis sie durch den Verkleinerungsspruch reduziert worden war. Der Drache könnte jetzt möglicherweise sofort seinen Feueratem gegen sie schicken, da sie versucht hatte, ihn zu töten. Sie entschließt sich, dieses Wesen besser nicht erneut zu beschwören, am besten vergisst sie es für immer!
Aufseufzend steht sie von der Bettkante auf und besucht ihre Mutter. Juna liegt so auf dem Bett, wie sie gestern Nacht verlassen worden ist. Cloe hatte nicht den magischen Sprung genutzt, sondern an die Tür geklopft und auf ein »Herein« gehofft. Noch vor dem Eintreten in das Zimmer wusste sie aber, dass sie die Stimme Junas nur noch in ihrer Erinnerung hören können wird. Als sie den entstellten Körper sieht, überlegt sie, ob es möglich ist, das Äußere ihrer Mutter wiederherzurichten. Ohne lange Überlegung probiert sie den Renovo-Zauber. Sie hält den Atem an, als die Verbrennungsspuren tatsächlich verschwinden. Sofort treten ihr erneut Tränen in die Augen. Die Tote wirkt jetzt, als ob sie schlafen würde. Cloe schluckt mehrmals heftig und fällt auf die Knie. Trotz der Verbrennungsspuren hatte sie ihre Mutter gestern umarmt, was sie jetzt wiederholt. Lange kniet sie dabei vor dem Bett, während ihre Gedanken zu Begebenheiten zurückkehren, in denen Juna sich an ihrem Bett ähnlich verhielt, wenn sie krank gewesen war. Schließlich seufzt sie und erhebt sich.
»Ach Mom. Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Wie soll ich den Drachen finden, der so viel Unheil nicht nur in unserer Familie anrichtete. Es gibt doch keine wirklichen Drachen mehr.« Da die Antwort ausbleibt und nicht in ihrem Kopf erklingt, so wie in der Nacht, verlässt sie niedergedrückt das Zimmer. Im Türrahmen dreht sie sich um und wirft einen traurigen Blick zurück, dann schließt sie leise die Tür.
Cloe geht langsam die Treppe hinunter. In der Küche bereitet sie automatisch ein Frühstück und deckt den Tisch, bis sie sich plötzlich unterbricht. Sie hat wie stets für Zwei gedeckt! Kopfschüttelnd lässt sie es so und setzt sich. Gedankenverloren beginnt sie etwas zu essen. Als sie aus den Gedanken wiederauftaucht, in denen sie viele glückliche Momente aus ihrer Kindheit und Jugend nacherlebte, staunt sie, wie hungrig sie gewesen sein muss. Sie hat viel mehr als sonst gegessen!
Jetzt überlegt sie, an wen sie sich wenden kann, um Informationen über das tödliche Drachenwesen zu sammeln. Sie kennt zwar die Namen verschiedener Elfen, darunter befindet sich jedoch nur Ainsley, die Schwester ihres Vaters, mit der sie mehr als einmal Kontakt hatte. Diese wohnt für eine Ostelfe unüblich in einem Haus, das sich nicht dort befindet, wo die meisten von ihnen in Baumhäusern leben. Es ist ein vorgeschobener Außenposten der Elfen und das Elternhaus ihres Vaters, weiß Cloe. Sie überlegt, ob sie Ainsley zu sehr erschreckt, wenn sie so schnell