Götzendämmerung I. Jörg Werner
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"Ich stelle mir eine engelsgleiche Erscheinung vor: zeitlos attraktiv mit geheimnisvoller Ausstrahlung, etwas androgyn mit Sex-Appeal, warmherzig und mit einem latent gewalttätigen Charisma. Das muss besonders rüberkommen, das Charisma. Fotografiert in weichen Pastellfarbtönen, etwas flatternde Stoffe im Hintergrund oder ein paar Fahnen."
„Rote Fahnen vielleicht, im Kontrast zu gewaltigen weißen Flügeln.“
„Zu sozialistisch.“
Die sprachen von Eleonore. Es war zu spät zu fliehen. Ihn packte nacktes Entsetzen. Er konnte Eleonore nicht entkommen. Sie saß in seinem Kopf so fest, wie andere Engel in anderen Hirnen. Um wenigstens minimale Entspannung herzustellen, war es nötig, sich die Geschichte mit Eleonore noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.
So ein Foto, wie es die Werbefritzen gerade beschrieben hatten, gab es von Eleonore von Sternberg, es war keine drei Wochen alt und geisterte seitdem durchs Netz.
Ein Bild wie eine Offenbarung, musste sich Herr Taschke eingestehen. Es zeigte eine überaus schöne, zierliche Frau in der hell erleuchteten, geöffneten Tür eines U-Bahn-Zuges in einem Untergrund-Bahnhof, im Rücken zwei schneeweiße, riesige Engelsflügel, die aus ihrem Rücken zu wachsen schienen. Die Schwingen gehörten zu einer überdimensionierten Plakatreklame auf der Tunnelwand hinter der geöffneten Wagentür auf der anderen Seite des Wagens, wo eine geflügelte Getränkedose gen Himmel stieg, weil das angepriesene Getränk angeblich Flügel verleiht.
Ein netter Schnappschuss mit einer Handykamera. Nichts Ungewöhnliches für die Postmoderne, in der jeder Tölpel mit einem fotografierenden Telefon in der Tasche herumläuft und überflüssige Momente festhält, um sie dann ins Netz zu stellen, wo sie sich verbreiten wie eine hochansteckende Geisteskrankheit, und für Verwirrung und Realitätsverzerrung sorgen. Vielleicht ging es auch nur darum, sich der eigenen Existenz zu versichern, indem man die Subjektivität des Augenblicks ins Endlose verlängerte.
Ich halte fest, was vergeht, also bin ich.
Blöd nur, dachte Herr Taschke, dass Eleonore auf dem Foto inmitten von vier verprügelten Anzugträgern stand, die sich, wie schwer verletzte Schlachtopfer ineinander verheddert und verkeilt, ängstlich aneinanderklammerten und völlig irre in die Kamera starrten, als hätten sie ein Rendezvous mit Freddy Krüger hinter sich.
Die daraus folgenden juristischen Verwicklungen lagen auf der Hand. Ein ausreichender Anlass für Eleonore von Sternberg, schon kurz nach diesem Zwischenfall in Anwalt Paul Imenhoffs Kanzlei aufzukreuzen, dort die Vorzimmerdame huldvoll zu ignorieren und in eine kleine Auseinandersetzung wegen einiger unbedeutender Spesenabrechnungen zwischen Anwalt Imenhoff und ihm hereinzuplatzen, um sich umgehend der Dienste der Kanzlei zu versichern. Anwalt Imenhoff und Herr Taschke fühlten sich für einen Augenblick wie Trojaner, denen jemand ein großes Holzpferd ins Büro gerollt hatte.
Wie er wenig später erfuhr, genoss die weitverzweigte Familie der von Sternbergs schon seit etlichen Jahrzehnten die juristische Rückendeckung der Kanzlei Imenhoff und Partner. Dass Eleonore einen ganzen Rattenschwanz von Prozessen aufgrund diverser extravaganter Auftritte und ihres außergewöhnlich impulsiven Charakters hinter sich herschleppte, hatte Anwalt Imenhoff ihm galant verschwiegen.
Das Anwaltsbüro Imenhoff und Partner stand in dem Ruf, die Probleme seiner durchweg zahlungskräftigen Klienten dezent und effizient hinter den Kulissen medialer Aufgeregtheit oder gar öffentlicher juristischer Auseinandersetzungen zu klären. Um die Konfliktlösungsmethoden der Kanzlei rankten sich einige unschöne Gerüchte, die zu vertiefen bisher niemand den Mut gefunden hatte, da kein Mensch den Rest seines Lebens vorwiegend im Gerichtssaal zu verbringen gedachte.
Eleonores jüngster Fall jedoch war auch nach den Kriterien abgebrühter Juristen außergewöhnlich. Er musste lächeln. Eleonores Wille beugte die Wirklichkeit so spielend, wie es nur die Götter vermochten.
Das Schneetreiben nahm zu, einzelne Halterungen, Verstrebungen und Stahlseile sangen im Wind und schlugen gegen die Buden. Der Weihnachtsmarkt klapperte wie ein ausgeleiertes Gebiss.
Die Werbefuzzies machten gnadenlos weiter, als wären sie die Jäger verlorener Einsichten oder geheimer Erkenntnisse.
"Moment, ich glaub', ich hab da vor ein paar Wochen was im Internet gesehen. Tolles Foto. Ein Bild wie aus einem Traum. Engel mit schneeweißen Flügeln, das Licht und die Schattenwürfe in der nächtlichen U-Bahn-Station hätte Goya nicht treffender malen können, und die grobe Körnung der Handykamera ergab irgendwie ‘ne geile Illusion, richtig mystisch und so.“
Herr Taschke orderte weiteren Glühwein, die Werber schlossen sich an.
„Stimmt, ich erinnere mich vage. Ein Gewaltexzess oder etwas in der Richtung.“
„In der U-Bahn nachts, die Frau war auf dem Heimweg, gerät an vier angetrunkene Banker, die Kerle pöbeln sie an, die Frau verbittet sich das, die Typen werden zudringlich, die Frau verprügelt die vier Idioten. Jemand fotografiert und stellt das Bild auf Youtube ins Netz. Dort bekommt es in nur drei Tagen zwei Millionen Klicks. Später fand die Story ihren Weg in die Zeitung, da bin ich darauf gestoßen.“
„Wow, du liest noch Zeitung, du bist ja doch so was von retro.“
„Ach, halt die Klappe.“
Soweit die offizielle Version der Geschichte, dachte er. Nur, dass Eleonore sich angeblich an nichts erinnern konnte, nicht mal, warum sie die U-Bahn und nicht, wie üblich, ein Taxi genommen hatte. Merkwürdigerweise gab es auch keine Zeugen des Zwischenfalls und die Videoüberwachung des Wagens zeigte nur Flimmern und ein weißes Wabern.
Der Weihnachtsmarkt attackierte den letzten Widerstand der puren Vernunft mit Süßer die Glocken nie klingen, das Publikum schob und drängte zu den Alkoholständen. Herr Taschke war sicher, dass ein mahnendes Trio der Anonymen Alkoholiker umstandslos gelyncht worden wäre.
„Die Frau war in der Zeitung?“, fragte der alte Guru interessiert nach.
„Ja, die Geschichte nahm noch mal richtig Fahrt auf, als so eine Spinnerillustrierte fürs Wartezimmer die Sache aufgriff und titelte: „Rückkehr der Schutzengel?“, danach zogen andere nach und es folgte ein ganze Flut von hirnrissigen Artikeln.“
„Hier, ich hab’s“, krakelte der Medienspezialist und zeigte stolz sein mediales Designerbrotbrett in die Runde. Die junge Werbequotenfrau las laut vor.
„Sie sind zurück. Engel zeigt Bankschnöseln, wo der Hammer hängt. Engel der Nacht haut drauf. Schutzengel schlägt zu.“, oder auch: „Danke, Herr. Keine Entschuldigung mehr. Sie kommen. Rachengel in U-Bahn.“
„Au weia“, entfuhr es dem alten Werbeguru.
Ihm wäre jetzt ein Flammenschwert willkommen gewesen. Er hatte maximale Entspannung gesucht, keine Eleonore-Retrospektive.
„Wieso ist da nirgends ein Foto von dem Engel zu finden?“
„Juristisch unterbunden.“
„Wie? Die haben es geschafft, alle Bilder aus dem Netz zu tilgen? Das schafft keiner!“
„Banker schon.“
Mit Geld und Hilfe eines skrupellosen Anwaltes geht alles, dachte Herr Taschke, aber die Dinge hatten sich dennoch komplizierter gestaltet, als die Werbefritzen ahnen konnten.