Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag. Gerhard Ebert
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Irgendwie war das ein Zirkus gewesen. Jedenfalls schien ihm das so. Da musste der Nazi, um den es ging, vor einer Kommission erscheinen, und die zog in aller Öffentlichkeit über ihn her. Wenn er einen Nachbarn hatte, der etwas Gutes über ihn aussagte, hatte er schon halb gewonnen auf seinem Wege, als artiger Bürger anerkannt zu werden. Gab aber ein Nachbar schlimme Dinge kund, zum Beispiel, wie viele Nazifahnen der Geladene einst herauszuhängen und wie stramm er mit "Heil Hitler" zu grüßen pflegte, dann konnte das lange Debatten auslösen. Uwe konnte sich nicht erinnern, einmal erlebt zu haben, dass einer der vorgeladenen Nazis wirklich ein Nazi gewesen sein wollte. Alle hatten sie plausible Ausreden.
Ein ohne Zweifel gutes Beispiel für das neue demokratische Leben war die regelmäßige Versammlung der Stadtverordneten. Dort saßen Sozialdemokraten, Christdemokraten und Kommunisten beisammen, um über das Wohl und Wehe der Stadt und ihrer Bürger zu befinden. Das schier ewige Hin und Her der Diskussionen hatte Uwe zwar oft gelangweilt, aber immerhin auf die Idee gebracht, in seiner Oberschule ein bisschen für Demokratie zu sorgen.
Das heißt, eigentlich fand er die Idee in der Zeitung "Start", aber bei den Stadtverordneten sah er, wie man es machen könnte. Natürlich waren an seiner Schule keine politischen Parteien zu wählen. Aber gewählt werden, dachte er sich, müssten aus jeder Klasse zwei Schüler. Und alle zusammen bildeten dann das Schulparlament, das die Interessen der Schüler gegenüber den Lehrern wahrnehmen sollte.
Für Uwe war nicht vorstellbar, dass sich gegen sein demokratisches Begehren irgendein Widerstand regen könnte. Also ging er nicht brav zum Rektor, dessen Genehmigung einzuholen, sondern klebte einen Aufruf ans Schwarze Brett mit der Aufforderung an alle Schüler, die sich interessierten, sich zu bestimmter Zeit in seinem Klassenzimmer einzufinden. Das Echo war zwar viel bescheidener, als er gehofft hatte, aber ein paar Neugierige und Willige gab es schon. Noch bevor die Schulleitung aufgewacht war, hatte Uwe ein Gründungs-Komitee beisammen, das einen Aufruf zu Wahlen in den Klassen verfasste.
Wenig später wurde Uwe zum Rektor gerufen, der ihn – zu seiner Überraschung – zur Initiative beglückwünschte und Unterstützung zusagte. So bekam Uwe schneller als gedacht an prononcierter Stelle im Schulgebäude eine große schwarze Tafel, die er als Wandzeitung der Schülervertretung etablierte. Aufrufe und dergleichen hätten gewiss wenig interessiert, wenn sich ihm nicht glücklicherweise eine zeichnerisch begabte Schülerin angeboten hätte, die wirklich mit Witz und Schwung allen nüchternen Texten bunte Zeichnungen beizufügen verstand. Mit Hilfe dieser Wandzeitung gelang es dem Gründungs-Komitee, in allen Klassen Wahlen zu organisieren und dergestalt schön demokratisch eine Schülervertretung aus der Taufe zu heben.
Was diese Körperschaft schließlich zum Wohle der Schüler anstellte, war so gewaltig nicht, aber aufregend genug. Zum Beispiel gründete sie eine Laienspielgruppe, die bei Elternabenden auftrat. Vor allem aber setzte sie sich für Belange der Schule wie der Schüler ein, und diese Bemühungen wurden toleriert, solange sie die Schule nicht nach außen vertreten wollte und den Lehrern nicht in die Quere kam. Es war offenbar – was Uwe nicht begriff – schon eine ungeheure Einmischung, dass die Schülervertretung sich herausnahm, einen "Vertrauenslehrer" zu wählen, den sie zu ihren Sitzungen einlud und mit dem sie besprach, was sie bedrückte. Bei Zensuren ein Mitspracherecht des jeweiligen Klassenvertreters zu erreichen, scheiterte ebenso wie das Ansinnen, einen Vertreter des Schülerparlamentes zu den Lehrerkonferenzen zuzulassen.
Umso überraschter war Uwe, als sich eines Tages herausstellte, dass an solchen Konferenzen ein Vertreter der FDJ teilnehmen durfte, die damals an der Schule kaum zehn Mitglieder zählte. Bald wurde klar: Die zwar demokratisch gewählte, aber politisch indifferente Schülervertretung passte nicht in die neue politische Landschaft. Es kam zur Konfrontation. In sein Tagebuch notierte Uwe unter dem Datum vom 10. Februar 1949 vorsorglich: "Ich ringe mich immer mehr zur Überzeugung durch, doch in der FDJ mitzuarbeiten!" Und in Steno schrieb er dahinter: "Angst!" Einen Tag später notierte er: "Schülervertretungssitzung über eine Lehrerkonferenz, an der die FDJ teilgenommen hat. Ich forderte eine Wahl der gesamten Schülerschaft über 'Ja' oder 'Nein'. Doch die Wahl hat praktisch keinen Zweck; denn verboten wird die Schülervertretung ja doch. Es ist bitter! Alle Arbeit umsonst."
So war es denn auch. Mit einer gewissen Hartnäckigkeit hatte Uwe durchgesetzt, in einer Vollversammlung vor allen Schülern zur Lage der Schülervertretung zu sprechen, und sich dabei in Rage geredet. Er endete mit Goethe und dessen Versen: "Eines schickt sich nicht für alle. Sehe jeder, wo er bleibe, sehe jeder, wie er's treibe, und wer steht, dass er nicht falle." Uwe hatte wirklich nur sagen wollen, dass sich eines nicht für alle schickt. Aber natürlich wurde sein Zitat als Drohung gewertet. Lehrer Arlt, der Vertreter der SED, beschimpfte ihn denn auch prompt als "Frosch", der es wage zu drohen, und drohte seinerseits, ihn von der Schule zu weisen. Der Rektor lavierte irgendwie, stimmte Arlt aber bei. Rückhalt hatte Uwe nur bei Herrn Faber von der CDU, den er informiert hatte und der erfreulicherweise zum Termin aufgetaucht war. Der Herr sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen.
Wenige Tage später stand in der Dresdener "Union", einer Zeitung der CDU, ein Artikel über einen ähnlichen Vorfall in Döbeln und die Information, dass es eine Anordnung über die Auflösung von Schülervertretungen gar nicht gäbe. Prompt erschien am Schwarzen Brett, das jetzt als "Jugend-Echo" fungierte und von der FDJ der Schule benutzt wurde, ein Artikel von Manfred Peters, einem Klassenkameraden, der als Kommunist galt und sich in allen Diskussionen bisher tolerant gezeigt hatte. Jetzt bezeichnete er Uwe unter dem Titel "Auch ein Demokrat" als "Feind der Einheit Deutschlands". Wie Manfred so etwas Unsinniges behaupten konnte, war Uwe völlig schleierhaft. Er verstand gar nichts mehr. Und in die FDJ konnte er nun schon gar nicht eintreten.
Als sich Herr Bienert, der Russischlehrer, als Sozialist zu erkennen gab und eine Diskussion auszulösen versuchte, schwieg Uwe beharrlich. Abends schrieb er ins Tagebuch: "Nun, ich werde mich hüten, es nochmals zu wagen, an einer Diskussion teilzunehmen."
Uwe hatte eine Lektion über Demokratie erhalten, eine Demokratie, wie er sie sich so nicht vorgestellt hatte. Ihm behagte nicht der zunehmende Einfluss dieser neuen Partei, die offen zugab, eine proletarische Diktatur anzustreben. Die politische Offenheit war zwar sozusagen ausgesprochen nobel, aber die Absicht schien Uwe so kurze Zeit nach der Überwindung einer verheerenden Diktatur nicht erstrebenswert. Nach der Vereinigung von Sozialdemokraten und Kommunisten zur Einheitspartei, die Uwe übrigens durchaus als positiven historischen Schritt empfunden hatte, steuerte man das soziale Ziel nun offenbar noch forscher an. Uwe ahnte, dass ihn seine Mitgliedschaft in der CDU letztlich gerettet hatte. Denn immerhin wurde ja auch weiterhin Blockpolitik gemacht.
13. Der erste Kuss
Ungestümer denn je regte sich in Uwe der junge, unbefriedigte Mann. Jetzt hoffte er inständig, die Tanzstunde würde ihn von seinem anhaltenden Liebeskummer ablenken. Die Vorbereitung begann leider mit einem neuen Dilemma: Eine Tanzstunden-Dame musste gefunden werden! Woher nehmen und nicht stehlen?
Diese Anneliese, die er natürlich am liebsten an seiner Seite gesehen hätte, war unerreichbar, die musste er sich aus dem Kopf schlagen. Sie war übrigens keine Oberschülerin. Nicht, dass er dünkelhaft gewesen wäre. Er hätte sie stolz aller Welt als seine Tanzstunden-Dame vorgeführt. Wobei "alle Welt" seine Mitschüler und deren Eltern im ziemlich heruntergekommenen Saal des Gasthauses "Lindenhof" gewesen wären. Aber solch kleiner Triumph war ihm partout nicht vergönnt. Für sein Renommee in der Klasse wäre nicht unwichtig gewesen, sozusagen in fremdem Teich geangelt zu haben.
Uwe musste sich wohl oder übel in seiner Oberschule umschauen. Da gab es eine Klasse tiefer immerhin eine Christel, die ihm schon gelegentlich aufgefallen war. Weil er sich aber bisher nur für die große Unbekannte interessierte, hatte er sich noch nicht um Christel bemüht. Das schien nun insofern einfach, als an der Schule natürlich