Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag. Gerhard Ebert

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Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag - Gerhard Ebert

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Tür, drehte sich aber abrupt noch einmal um und rief laut in die Klasse zurück:

      „Nie wieder Faschismus! Das sage ich Euch! Nie!“

      Und raus war er. Ein Moment der Lähmung folgte, die ganze Klasse war total geschockt. Aber, wie Uwe schien, weniger wegen der Nachricht, mehr wegen des ungewöhnlichen Verhaltens des alten Mannes. Jetzt brach Gelächter los. Uwe war nicht wohl dabei. Er mied jeden Disput, packte hastig seine Tasche und verließ Klassenzimmer und Schule. So schnell wie diesmal war er wohl noch nie zu Hause und am Radio. Er musste nicht lange einen Sender suchen. Stumm hörte er sich alles an.

      Mittlerweile war Vater gekommen.

      „Hast du das gewusst?“ fragte der Sohn fasst ein bisschen vorwurfsvoll und schaute ihn mit großen Augen durchdringend an.

      „Schalt erst mal ab“, sagte der Vater und griff sich ein Bier. Mutter putzte irgendwo auffällig emsig herum, sie schien ein schlechtes Gewissen zu haben.

      „Weißt du“, sagte Vater jetzt irgendwie gequält, Wort für Wort mühsam abwägend, „weißt du, manchmal wurde so etwas gemunkelt, von Buchenwald und so, von Lagern. Aber Genaues konnte man nicht erfahren. Es war zu gefährlich. Weißt du! Sonst wäre man auch da gelandet.“

      „Ist ja entsetzlich“, sagte Uwe, „entsetzlich!“

      Mehr wusste er im Moment auch nicht zu sagen. Vater kippte Bier, noch einen Schluck, noch einen Schluck, wie als wolle er Zeit gewinnen, dann setzte er die Flasche ab und ergänzte:

      „Es darf einfach nie wieder passieren. Nie wieder! Hörst du?“

      „Wir Deutsche, wir Deutsche!“ sagte jetzt Mutter wehleidig, und es war nicht recht zu verstehen, wie sie das meinte.

      Nun berichtete Uwe, noch immer ziemlich fassungslos, wie ganz anders er heute seinen alten Biologie-Lehrer erlebt hatte. Dass der völlig von der Rolle war.

      „Ja, die Deutschen“, sinnierte jetzt Vater. „Ich traue ihnen alles zu, alles, auch in Zukunft.“

      „Was?“ wollte Uwe wissen, „was alles traust du ihnen zu?“

      Statt zu antworten, griff Vater verzweifelt die leere Bierflasche, als wolle er sie gegen die Wand donnern, und sagte:

      „Das Volk ist eine Hure, es will verführt werden!“

      Uwe musste ein sehr erstauntes Gesicht gemacht haben, denn Vater fügte sofort hinzu:

      „Wenn du verstehst, was ich meine!“

      Doch Uwe verstand nicht, schaute nur erstaunt.

      „Lass es gut sein“, winkte Vater ab, „für heute reicht es! Die Hauptsache, du lernst ordentlich in der Schule.“

      „Ja, ja“, versprach Uwe irritiert. Immerhin hatte er heute ein ernstes Gespräch mit Vater geführt, wie es zwischen ihnen aus welchen Gründen auch immer noch nie zustande gekommen war.

      Lange, lange lag er an diesem Abend wach im Bett, versuchte die entsetzlichen Nachrichten irgendwie in ein menschliches Bild zu bringen. Aber es gelang ihm nicht. Und die Verbindung zwischen Volk und Hure schien ihm ganz und gar rätselhaft. Bislang hatte er gedacht, dass eine Hure Männer verführt und nicht von ihnen verführt wird oder gar verführt werden will. Aber das ganze Volk? Dennoch schien etwas dran zu sein an Vaters Meinung.

      Uwe erinnerte sich an ihr Gespräch, als er Tage später im Kino in der Wochenschau entsetzliche Bilder zu sehen bekam von Konzentrationslagern, von ausgemergelten Menschen hinter Drahtzäunen, von Bergen von Leichen. Wie verführt musste das deutsche Volk gewesen sein, dass es solche Unmenschlichkeit geduldet hatte! Uwe saß gebannt auf seinem Sessel im Dunkel des Kinos. Keine Reaktion im gut gefüllten Saal, er schien völlig allein. Ein unbestimmtes Gefühl ergriff ihn, eine Welle von Solidarität mit den unschuldigen Menschen da oben auf der Leinwand. Nie wieder! schwor sich der inzwischen Fünfzehnjährige. Nie wieder!

      10. Kein Feuer, keine Kohle

      Sobald Gelegenheit war und Zeit dafür, streifte Uwe auf der Suche nach der großen Unbekannten durch die Straßen seiner Heimatstadt. Erfolglos. Aber: Unerwartete Überraschung, als er faulenzend zu Hause aus dem Fenster guckte.

      Eigentlich war das langweilig, nur so aus dem Fenster zu schauen, aber in der Kleinstadt ein beliebter Brauch. Irgendwie war es eine Abwechslung. Man sah diese oder jene, die unten auf der Straße lang kamen und die man kannte. Wenn es Nachbarn waren, musste man artig "Guten Tag" sagen. Manche Leute kamen immer wieder zu ganz bestimmter Zeit daher. Nur selten geschah wirklich etwas Außergewöhnliches. Aber diesmal!

      War doch plötzlich ein weibliches Wesen um die nahe Ecke gebogen, das ihm mit seinem wiegenden, lockeren Schritt prompt das Blut pochend durch alle Adern jagte. Das geschah unabwendbar und unfassbar, noch bevor er wirklich genau hatte sehen können, dass es sich tatsächlich um das Fräulein handelte, das ihm nun schon seit Wochen überhaupt nicht wieder aus dem Kopf ging. Von innerer Erregung erfasst, doch irgendwie instinktiv ein bisschen ins Fenster zurückgeduckt, sah er alsbald deutlich: Es war sie! Eindeutig! Ja! Ja! Es war sie! Da schritt sie hin, kam näher.

      In Uwes Kopf wirbelten die Gedanken, überschlugen sich geradezu. Sollte er so ausgesprochen demonstrativ am Fenster bleiben? Sie ging drüben auf dem Fußsteig, musste ihn also nicht unbedingt gesehen haben. Sollte sie aber doch, was durchaus wahrscheinlich war, würde von ihr als eine Reaktion gewertet werden, wenn er jetzt vom Fenster wegging. Sie konnte es als Desinteresse auslegen, auch als Feigheit. Das wollte er vermeiden.

      Andererseits: Gar schnell und also einigermaßen kopflos auf die Straße und zu ihr zu eilen, verbot sich. Was hätte er sagen sollen? Bestimmt wäre nur irgendetwas Blödes herausgekommen. Ja, wenn er tollkühn wäre, so ein richtiger Casanova wie im Kino! Außerdem, wurde ihm klar, hatte er verschlissene Hausschuhe an, und darin irgendwelche Annäherung zu beginnen, wäre nichts als absurd und lächerlich gewesen. Seine Gedanken überstürzten sich. Und sie lief dahin unten auf der Straße, schaute nicht einen Moment hoch zu ihm und war vorbei.

      Aussichtslos an so eine Frau heranzukommen! Uwe blickte ihr verzweifelt nach, bis sie oben am Ende der Straße um die Ecke bog. Er konnte also nicht einmal feststellen, in welche Haustür sie gehen würde. Das wäre eine Chance gewesen, ihr vielleicht näher zu kommen. Er hätte ausspionieren müssen, ob sie etwa gar dort wohnt, oder wen sie besucht. Jetzt war nur die Möglichkeit zu warten für den Fall, dass sie und ob sie zurückkommt. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Schon schmerzten die Ellenbogen vom Aufstützen auf dem Fensterbrett. Schließlich wurde Mutter ungeduldig. Er ahnte, was sie dachte. Statt ihr bei der Vorbereitung des Abendbrotes ein bisschen zur Hand zu gehen, trödelte er nichtsnutzig herum. Draußen dunkelte es bereits.

      "Was ist?" fragte Mutter plötzlich hinter seinem Rücken.

      Was sollte sein? Uwe hatte keinen Grund, seinen Kopf noch länger zum Fenster hinaus zu stecken. Jedenfalls keinen, den er Mutter hätte mitteilen können. Also schloss er schweren Herzens das Fenster und half still und in sich gekehrt, den Tisch zu decken. Dass ihm dabei ein Teller herunterfiel, der in viele Stücke zersprang, war für Mutter einmal mehr das Zeichen, dass ihr verträumter Sohn fürs Lebenspraktische offenbar nicht so recht taugte. Und Uwe empfand diese zusätzliche Demütigung vom Schicksal besonders schoflig.

      Lassen sich die menschlichen Geschicke überhaupt zwingen? Uwe bezweifelte das immer heftiger. Warum musste einen ein völlig unbekanntes Mädchen

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