Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag. Gerhard Ebert

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Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag - Gerhard Ebert

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durchaus nicht ungefährlich gewesen.

      Was sich in der Nacht wirklich zugetragen hatte, hat Uwe nie erfahren. So viel aber sprach sich herum: Auf halbem Wege hinab in die Unterstadt waren den Hungrigen aufgescheuchte Leute entgegengekommen, mit leeren Handwagen und mit dem Gerücht, die Amis seien im Anmarsch. Eben dies war aber für einige Beherzte die Gelegenheit, den Ort, wo das Fleisch lagerte, möglichst unbehelligt und frei von Konkurrenz anzutreffen. Sie waren bis in die unheimlich offene und gespenstig dunkle Kaserne vorgedrungen und hatten das zum Glück noch nicht völlig ausgeplünderte Depot gefunden. Die Amerikaner waren nicht gekommen, so dass in den dusteren Hallen im Nu wieder großer Andrang herrschte. Im wüsten Gedränge hatte es eine böse Schlägerei gegeben.

      Letztlich war Uwe froh, nicht dabei gewesen zu sein und vor allem, seinen Vater unbeschädigt wieder zu Hause zu wissen. Denn dass die Familie komplett war, auch gesund, war in diesen letzten Kriegstagen ein seltenes Glück, das nur wenige teilten. Meist war der Ernährer irgendwo an der Front, in Gefangenschaft oder tot.

      Nach zwei, drei Tagen fernen Geschützdonners und allgemeiner Ratlosigkeit krachte es plötzlich laut und sichtbar. Von der Georgenstraße, wo Uwe wohnte, kann man nämlich genau zum Bismarckturm sehen, dem Wasserturm der Stadt. Das ist ein dreißig Meter hoher Steinkoloss, auch als Aussichtsturm nutzbar. Was die Amerikaner offenbar auch vermuteten. Jedenfalls hatten sie begonnen, den Turm zu beschießen. Sollten sie ihn zertrümmern, wäre das eine Katastrophe für die Stadt gewesen. Denn von dort oben kam alles Wasser, das sie täglich verbrauchten.

      Wieder stieg eine weiße Wolke am Turm auf, prompt folgte ein Knall hinterher. Furchtbar! Auf einmal war der Krieg ganz gegenwärtig. Da schrie jemand: "Eine weiße Fahne!" Ein alter Herr hatte mit einem Fernglas zum Turm geschaut und gesehen, dass dort oben auf der Aussichtsplattform eine weiße Fahne gehisst worden war. Wenn man genügend lange hinstarrte, konnte man sich einbilden, sie mit bloßem Auge ebenfalls zu sehen. Und, oh Wunder! Keine aufsteigende Wolke mehr, kein Knall. Die Amerikaner hatten das Signal offenbar respektiert.

      Kaum war wieder angespannte Ruhe aufgekommen, gab es neue Aufregung! An einem Fenster in der Straße tauchte eine weiße Fahne auf. Eigentlich logisch. Auch da wollte jemand offen zeigen, dass er die Schnauze voll hat vom Krieg und nicht schießen will. Niemand in der Straße hatte eine Waffe. Aber natürlich konnten das die Amerikaner nicht wissen. Ihnen musste gezeigt werden, dass keine Gefahr drohte. Schon blinkten ein, zwei weitere weiße Fahnen.

      Vater zögerte. Uwe verstand das nicht. Vater murmelte sehr nervös und gereizt irgendetwas von Kriegsrecht. Als aber noch mehr weiße Tücher auftauchten, wies er Uwe aufgeregt an, die Fahnen herbeizuholen. Was Uwe hastig tat. Sofort begann Vater, von den vier kleinen Stangen die Fahnentücher abzureißen. Er machte das hastig und äußerst erregt. Uwe war seltsam komisch ums Herz. Hier nahm ganz ohne Zweifel etwas sein Ende, was er bis dahin mit seinen nun vierzehn Jahren noch gar nicht richtig begriffen hatte. Vater hingegen, ohnehin Gegner des Krieges und kein Freund der Nazis, wusste offensichtlich sehr genau, was er tat. Im Nu waren die Hakenkreuzfahnen im Ofen verschwunden und ein Feuer entfacht. Mutter wurde beauftragt, für ein weißes Laken zu sorgen.

      Jetzt war da kein Zögern mehr. Flugs holte Vater Hammer und Nägel. Ein Blick auf die Straße hatte letzte Bedenken ausgeräumt. Mutter übrigens, die auf alle Habe achtete und ein Bettlaken gewiss nicht gern opferte, war schon bald mit einem weißen Tuch zur Hand. Schnell nagelte es Vater fest. Er öffnete das Fenster und steckte die schwarze Fahnenstange, die noch eben ein ganz anderes Tuch geziert hatte, in das dafür montierte kleine Eisenrohr. Uwe überkam ein eigentümliches Gefühl. Soeben hatten sie sich offiziell und für alle Welt sichtbar ganz persönlich vom Dritten Reich verabschiedet. Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass die Amerikaner auch in dieser Straße so human handeln würden wie bei dem Wasserturm.

      Doch noch bevor die neuen Empfindungen in Uwe richtig Platz greifen konnten, geschah etwas völlig Unerwartetes. Oben an der Ecke der mählich ansteigenden Straße, so etwa zweihundert Meter entfernt, stand plötzlich ein Trupp Soldaten. Keine Amerikaner! Deutsche! Ein Feldwebel mit zwei Landsern, Zigaretten rauchend, mit den Gewehren spielend, offenbar leicht angetrunken und irgendetwas rufend. Die weißen Fahnen verschwanden von den Fenstern!

      Hastig holte auch Vater das weiße Laken wieder herein. Dabei zitterte er am ganzen Leib. Uwe hatte das vorher und hat es auch nachher nie wieder bei ihm gesehen. Vater hatte offenbar ungeheure Angst. Uwe musste das Tuch samt Fahnenstange ganz schnell unten im Keller hinter einer Kartoffelkiste verstecken. Als er zurückkam, hatte sich der Trupp Soldaten inzwischen genähert. Uwe blickte vorsichtig hinaus. Nicht eine weiße Fahne in den Fenstern, die Straße menschenleer, die Bewohner weggeduckt hinter den Gardinen.

      Den Feldwebel schien das zu amüsieren. Er brüllte in einem fort hinauf zu den verlassenen, aber offenen Fenstern. Da Uwe nicht wusste, ob der Militär Übles anstellen würde, blieb auch er versteckt. Vater hielt ihn sogar zurück, als er näher zum Fenster wollte. Trotzdem konnte Uwe hören, wie dieser Feldwebel seine Macht genoss. Protzig rief er zu den Wohnungen hoch, die Leute sollten es nicht so eilig haben, noch hätten er und seine Kameraden alles fest im Griff. Wie besoffen musste der sein, um an solch einen Unsinn zu glauben? Das war selbst dem halbwüchsigen Uwe klar: Drei Männer mit Gewehren würden gegen die Amerikaner nichts ausrichten können. Offensichtlich ziellos trottete der ungebetene Trupp weiter. Schon war die letzte deutsche Streitmacht vorüber und hinter der nahen Ecke verschwunden. Vater zitterte noch immer.

      "Gott sei Dank", sagte er, "waren sie nicht von der SS!"

      Was das bedeutet hätte, wusste Uwe damals noch nicht.

      "Sie hätten uns glatt erschießen können", fuhr Vater fort, und, nach einigem Zögern: "Hol das Ding wieder hoch!"

      Uwe eilte. Als er zurückkam, warteten die Eltern bereits ungeduldig. Auf der Straße prangten an den Fenstern schon wieder die weißen Fahnen. An der Ecke stand todesmutig eine alte Frau und rief, die Luft sei rein. Also zeigte auch Vater wieder Flagge. Draußen gruppierten sich unterdessen Einwohner, meist Frauen und alte Männer, und debattierten über den Vorfall. Sie waren der Meinung, sie hätten soeben die letzte Kriegshandlung erlebt. Wie sie sich täuschen sollten!

      Plötzlich erschien, vom Chemnitzer Platz kommend, ein Hitler-Junge mit einer Panzerfaust unterm Arm. Er suchte Deckung hinter der Hausecke und brachte die Waffe in Anschlag. Die Leute, die er nicht beachtete und denen er jetzt den Rücken zuwandte, schrien auf ihn ein. Er ließ sich nicht beirren. Vom Platz her kam Lärm auf, der Motor eines Fahrzeuges. Plötzlich ein Feuerball, im gleichen Moment eine laute Detonation. Der irre Krieger hatte abgedrückt. Und schon war er wieder verschwunden.

      Die Leute auf der Straße waren erstarrt. Einige, auch Vater, montierten die weißen Fahnen wieder ab. Gespenstige Ruhe. Kinder, wie immer neugierig, wagten sich vor und schauten um die Ecke. Da sie die Deckung verließen und in Richtung Platz verschwanden, war dort offenbar keine unmittelbare Gefahr. Auch Uwe eilte hinaus. Mutter versuchte, ihn aufzuhalten. Schon kamen ein paar Jungs zurück, triumphierend Beute schwingend: Zigaretten!

      Dieser junge Schütze, stellte sich heraus, hatte einen amerikanischen Jeep getroffen, der von einer Zufahrtsstraße zum Platz hatte vorstoßen wollen. Die Leute, die sich jetzt drängten, prüften kaum die Lage. Nirgends Amerikaner. Bis auf zwei tote Neger in dem Jeep. Dem einen war der Fuß abgerissen. Was auch Erwachsene nicht hinderte, zwischen den Leichen nach Beute zu suchen, als sei es eine seit langem gepflegte Selbstverständlichkeit. Uwe wurde übel. Er lief zurück und sah, wie Vater das Laken neu montierte

      Der Tag und eine lange Nacht vergingen. Ruhe draußen. Am frühen Morgen schwoll in der Ferne ein bis dahin nicht gekanntes Gedröhn an: Panzer! Die Amerikaner rückten vor. Schüsse. Feuer. Sofort brannte ein Eckhaus am Chemnitzer Platz. Aber kein Widerstand mehr.

      6.

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