Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag. Gerhard Ebert

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Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag - Gerhard Ebert

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Proben. Uwe und Tante Betty standen stundenlang auf schmalem Brett, beugten sich über eine kleine Reling und übten. Die Marionetten, die gerade nicht an der Reihe waren, hingen greifbar hinter ihnen an der Wand. Es war schon ganz schön schwierig, mit Daumen und kleinem Finger den Steg, an dem die Marionette befestigt war, immer so zu halten, dass sie knapp über dem Bühnenboden stand, und obendrein auch noch mit Zeige- und Mittelfinger den vorn am Steg beweglich quer befestigten Bügel, von dem Fäden zu den Füßen verliefen, so zu bewegen, dass die Marionette ihre Beine hob und lief.

      Uwes Bruder Karl, der gern zuschaute, monierte immer wieder, dass die Figuren wie Geister schwebten, statt wie Menschen zu gehen. Aber mit Geduld gelang die Lauferei immer besser. Das zu meisternde Problem war, dass man nach unten blicken musste, um zu sehen, dass die Figur wirklich auf dem Boden stand und ging, dass man aber auch zum Text schauen musste, um just die Zeile auszuspähen, die gerade laut abzulesen war. Aber Übung macht bekanntlich den Meister. Mit der Zeit kannten beide Spieler bestimmte Textstellen ein bisschen auswendig und konnten sich besser aufs Spiel konzentrieren.

      Während der Proben geschah Unerwartetes. Anfangs hatte sich Uwe ganz auf seine Aufgaben konzentriert, aber eines Tages war ihm plötzlich bewusst geworden, dass er ab und zu mit seiner Tante körperlich Kontakt hatte. Einmal schien ihm sogar, dass sie ihren Hintern absichtlich von der Seite ein wenig an ihn drückte. Gewiss war das ein Irrtum, aber immerhin ungeheuer aufregend. Er versuchte herauszubekommen, ob sie etwa tatsächlich unauffällig die Nähe suchte. Schließlich hatte sie keinen Mann, und er war doch irgendwie auf dem Wege. Als ihm klar wurde, dass sie leider nur zufällig, eben im Spiel, seine Seite berührte, nahm er sich vor, immer eng bei ihr zu bleiben, um ihren Körper ab und zu spüren zu können. In ihm wallte da stets etwas auf, was er nicht definieren konnte, was aber verdammt angenehm war. Wie gewaltig erregend musste das sein, wenn sich wirklich Haut mit Haut berührte, ohne irgendeinen Stoff dazwischen.

      Ganz und gar aus dem Häuschen geriet Uwe, als er wenig später unerwartet und ganz nah Tantes splitternackte Brüste zu sehen bekam. Sie probierte immer mit Leidenschaft, weshalb sie stets ins Schwitzen kam. Deswegen erschien sie eines Tages nur mit losem Turnhemd bekleidet, das offenbar ein, zwei Nummern zu groß war. Jedes Mal jedenfalls, wenn sie sich nach vorn beugte, was oft nötig war, gab sie unfreiwillig Uwe den Blick frei auf ihre runden, jetzt glockig hängenden Brüste. Ein umwerfender Anblick. Uwe verschlug es den Atem. Beinahe hätte er sich verraten, aber es gelang ihm, seine urplötzlich aufwallende Erregung zu verbergen.

      Nun nutzte er jede sich bietende Gelegenheit, unauffällig nach nebenan und auf Tantes Brüste zu schielen. Prompt war er abgelenkt, und Tante meckerte. Uwe hoffte, sie habe nicht mitbekommen, warum er aus dem Tritt gekommen war. Aber leider hatte sie offenbar mehr begriffen, als ihm lieb war. Zur nächsten Probe nämlich ließ sie Uwe keine Chance mehr. Ihm schien sogar, dass sie jetzt deutlich vermied, mit ihm in körperlichen Kontakt zu geraten. Was blieb, war die Erinnerung an ein aufregendes erotisches Intermezzo.

      Die erste Vorstellung war eine Familiengala. Die ganze bucklige Verwandtschaft war erschienen, sogar der nun schon über siebzig Jahre alte Opa Alfred, mit dem Uwe in Bremen gewesen war, und Tante Else, die um ihren Sohn trauerte. Am meisten Furore machte der Kasper, nicht nur mit seiner Zipfelmütze. Allen gefiel, wie er mit lautem "Perlicke" und "Perlacke" den Mephistopheles herbeizitierte, bei dessen Erscheinen Tante Betty auf ein ausgedientes Kuchenblech klopfte und Uwe die Lampen wetterleuchten ließ. Das machte so viel Effekt, dass Faustens Schicksal gar nicht mehr so wichtig war. Und Kasper als Nachtwächter mit seinem Slogan "Hört ihr Leute, lasst euch sagen, die Glocke hat jetzt zwölf geschlagen" avancierte geradezu zum Liebling des Publikums.

      Die Familie war sich einig, dass Uwe und Tante Betty ganze Arbeit geleistet hatten. Beklagt wurde nur, dass beide viel zu schnell gesprochen hätten, weswegen das Spiel leider eigentlich viel zu kurz gewesen sei. Nun gut, das ließ sich abändern. Die frisch gebackenen Künstler versprachen Besserung. Was sich freilich nur in einer nächsten Vorstellung würde zeigen lassen.

      So wurde die Idee geboren, schon am nächsten Tag in der Straße, angefangen bei den Nachbarn, von Haus zu Haus zu gehen und alle Kinder zu einer Vorstellung einzuladen. Die Resonanz war unerwartet groß. Irgendwie hatte sich bereits herumgesprochen, dass sich bei Uwe auf dem Wäscheboden der Teufel höchstpersönlich blicken ließ. Man wollte das auf gar keinen Fall verpassen. Und zur Freude der beiden Puppenspieler fanden sich nicht nur Kinder, sondern auch deren neugierige Mütter ein.

      Bei der ersten Teufels-Erscheinung gab es unerwartet Geschrei im Publikum. Ein zu nah sitzendes Mädchen hatte die Sache zu ernst genommen, weswegen der Vorhang fallen und die verängstigte Kleine erst einmal beruhigt werden musste. Aber danach war die Spannung im Raum so groß, dass am Ende niemand nach Hause gehen wollte und alle wünschten, dass der Kasper noch einmal von vorn beginnt. Das war nun wirklich nicht vorgesehen, und Uwe, der ohnehin schon ganz heiser war vom vielen gezirkelten Sprechen, atmete auf, als Tante Betty den jungen Zuschauern liebevoll erklärte, Kasper sei jetzt müde und müsse schlafen. Sie schlug den Kindern vor, am nächsten Tag wiederzukommen und Freunde mitzubringen. Kasper sei dann gewiss wieder ganz fit, und auch der Teufel sei dann wahrscheinlich erneut bereit, sich herbeilocken zu lassen. Derlei Aussicht auf erneute Gruselei stimmte froh. Sogar die anwesenden Muttis versprachen, die Werbetrommel zu rühren. So etwas wie dieses Marionetten-Spiel gebe es nirgends sonst zu sehen, das dürfe man einfach nicht verpassen.

      Am Tage der nächsten Vorstellung war der Andrang so groß, dass Uwe schnell noch eine Sitzbank zimmern musste, um alle Zuschauer unterbringen zu können. Bis auf eine ärgerliche Panne verlief alles gut. Uwe hatte versäumt, vor Beginn der Vorstellung noch einmal alle Puppen zu kontrollieren. So konnte es geschehen, dass sich Kaspers Mütze nicht erheben ließ, weil sich der zuständige Faden heillos verheddert hatte.

      Die Enttäuschung im Zuschauerraum war zu spüren. Offenbar saßen da Kinder, die die Geschichte schon einmal gesehen hatten und nun darauf warteten, dass sich des Kaspers Haare sträubten. Was tun? Während des Spiels war keine Zeit, die Fäden zu entwirren. Und bis zur Pause war der Effekt noch ein paar Mal vorgesehen. Tante deutete mit der Hand zum Vorhang, und Uwe begriff. An irgendwie passender Stelle, als Doktor Faustus gerade vom Osterspaziergang zurückgekommen war, zog Uwe den Vorhang zu, und Tante Betty legte schnell eine Platte auf. Unruhe bei den Zuschauern war nicht zu vermeiden, aber der Schaden ließ sich zum Glück schnell beheben, und die Vorstellung konnte weitergehen. Welch Ah und Oh, als sich nun bei entsprechender Stelle des Kaspers Zipfelmütze in die Höhe reckte. Wie simpel doch ließ sich Publikum beglücken, und wie wenig kam es auf große Gedanken an!

      Noch drei Vorstellungen kamen zustande, weil die Mundpropaganda für Zuspruch sorgte. Die Zuschauer ließen sich auch nicht dadurch abhalten, dass sie inzwischen pro Person einen Groschen Eintritt zahlen mussten. Nicht nur war es ein angenehmes Gefühl für Uwe, sich auch auf diese Weise anerkannt zu sehen, es gab ja doch auch diese und jene Ausgabe für ihr Hobby, die so leichter bestritten werden konnte. Aber natürlich war nicht zu übersehen, dass gerade, als sich Uwe und Tante so richtig gut „eingespielt“ fühlten, der Strom der Zuschauer verebbte. Es war wirklich jammerschade.

      Uwe gebar eine verwegene Idee. Wie denn, wenn er mal mit der Führung des Jungvolks sprechen würde? Es gab im Stadtviertel vier Züge zu je etwa dreißig Pimpfen. Das könnte noch vier volle Vorstellungen ergeben, vorausgesetzt, die Leitung machte mit. Tante aber war strikt dagegen. Mit der Hitler-Jugend gemeinsame Sache? Nein, das kam mit ihr nun aber wirklich nicht in Frage. Damit fegte sie Uwes Idee erst einmal vom Tisch.

      Es war Vater, der eines Abends seine Schwester darauf aufmerksam machte, dass sie ja immerhin keinen einfachen Hokuspokus spielten, sondern ein klassisches Puppenspiel, das dem Herrn Goethe aus Weimar als Vorlage gedient hatte und das in seiner Gesinnung jungen Menschen nichts Böses beibringe. Im Gegenteil, es diene menschlichem Verhalten. Und siehe, Tante ließ sich überzeugen. So bekam Uwe grünes Licht, mit seinem Fähnleinführer zu reden.

      Heraus kam, dass erst einmal eine Vorstellung für die Oberen der HJ arrangiert werden

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