Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag. Gerhard Ebert
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Eines Tages entdeckte Uwe bei einem seiner Spaziergänge durch die Stadt an einer Kneipe einen Aushang, auf dem ein Schachklub Interessenten warb. Er ging zwar nicht sofort hin, zumal er erst noch ausfinden musste, wann man dort genehm war, aber einige Zeit nach seiner Entdeckung betrat er doch am ausgewiesenen Spieltag den leider arg rauchgeschwängerten Raum der Kneipe. Dass Schachspieler sich als Raucher entpuppten, war höchst bedauerlich, musste aber jetzt durchgestanden werden. An drei, vier Tischen saßen sich je zwei Herren gegenüber, jeweils ein Schachbrett zwischen und ein Glas Bier neben sich.
Kaum einer der Herren merkte auf, als Uwe eintrat. Auch jetzt, als er unschlüssig stand, kümmerte sich keiner. Das ärgerte ihn, denn Neulinge zu werben, hieß doch wohl, sie auch zu begrüßen. Schon war Uwe geneigt, sich wieder abzuwenden, aber ein Bier, entschloss er sich, wollte er wenigstens trinken. Außerdem hatte er auf jedem der Spieltische so eine Art doppelte Uhr bemerkt, auf die der Spieler, der gerade einen Zug gemacht hatte, auf seiner Seite kurz drückte. Das hatte er noch nie gesehen und machte ihn neugierig. Also nahm er an einem leeren Tisch Platz, bestellte beim eilfertigen Wirt ein Bier und blickte im Übrigen angestrengt neugierig hinüber zu dem nächststehenden Tisch, um vom dort ausgetragenen Spiel etwas mitzubekommen.
Plötzlich fragte den neugierigen Uwe doch tatsächlich ein junger Mann, der eben seinen Zug gezogen hatte, ob er vielleicht Interesse hätte. Das war die Gelegenheit! Uwe fasste all seinen Mut zusammen und sagte forsch, er würde gern einmal gegen ihn spielen, wenn er mit seinem Spiel zu Ende sei. Prompt forderte der junge Mann den Wirt auf, Uwe ein Schachbrett zu bringen. Eh er es vermutete, hatte der Anfänger ein nagelneues Brett vor sich auf dem Tisch und ein Kästchen mit Figuren. Das Bier platzierte der Wirt elegant an der Seite. Was er Uwe nicht hinstellte, war solch eine doppelte Uhr! Noch bevor der sich von seiner Überraschung erholt hatte, forderte ihn der junge Mann von nebenan auf, schon mal die Figuren aufzustellen. Er wüsste ja wohl, wie das geht. Nun gut, den Gefallen konnte Uwe ihm tun. Schließlich war noch viel Zeit, denn bei dem just laufenden Spiel des Nachbarn war ein Ende nicht in Sicht. Also baute Uwe in aller Ruhe die Figuren auf. Doch kaum war er damit fertig, sagte der Nachbar über die Schulter zu ihm, er solle "weiß" nehmen und schon mal den ersten Zug machen.
Uwe fand das zutiefst beleidigend! Konnte der Spieler nicht warten, bis er mit am Tisch saß? Und hätte er, Uwe, nicht auch solch eine Uhr bekommen müssen? Was sollte er tun? Immerhin, empfand er, war es entgegenkommend, ihn als Spieler zu akzeptieren, ohne ihn zu kennen. Also zog Uwe einen Zug und nahm einen Schluck Bier. Der junge Mann von nebenan blickte nur kurz herüber, griff mit langem Arm her, setzte eine Figur und widmete sich prompt wieder dem Spiel an seinem Tisch.
Das verwirrte Uwe total. So nebenbei, wie der junge Mann das versuchte, glaubte Uwe, war mit ihm nun wirklich nicht zu spielen! Also zog er prompt den nächsten Zug. Das ging so drei, vier Mal, dann machte der Nachbar einen Zug, sagte "Schach!" und überließ Uwe seiner Verblüffung. Noch glaubte Uwe, er würde gefoppt, und begriff gar nicht, dass er bereits verloren war. Kaum hatte er erneut gezogen, griff sein Gegner wieder ganz nebenbei herüber, setzte eine Figur und sagte: "Matt!"
Uwe starrte entsetzt auf das Brett. Tatsächlich, tatsächlich, er war so ganz nebenbei auf die Matte gehauen worden. Uwe war plötzlich sehr, sehr allein.
"Danke!" sagte er schließlich kleinlaut, bezahlte sein Bier und schwankte davon. Die verräucherte Schachklub-Kneipe betrat er nie wieder.
8. Blitze aus heiterem Himmel
Kaum hatte man sich in der Stadt irgendwie mit der amerikanischen Besatzung abgefunden, machte das Gerücht die Runde, die Russen würden kommen. Uwe hatte zwar von martialischen Nazi-Plakaten über eine angebliche bolschewistische Gefahr nicht viel gehalten, aber ein bisschen mulmig wurde ihm doch bei dem Gedanken, den „roten Untermenschen“ ausgeliefert zu werden. Auf gar keinen Fall bei den Russen landen wollte Tante Betty. Entschlossen packte sie ihre Habe, obwohl sie in Bremen ja ausgebombt war, und der Rest ihrer Möbel im Hause ihres Bruders stand.
Uwe schien diese Flucht vor den Russen etwas kopflos. Bei der Gelegenheit wurde ihm wieder bewusst, wie sehr er seine Tante verehrt hatte. Seine Zuneigung hatte allerdings nachgelassen, nachdem sie ihm keine Chance mehr geboten hatte, ihre so verführerischen Brüste zu bewundern. Als Tante jetzt ihre Absicht verkündete, alsbald nach Bremen zu verduften, löste das bei Uwe keinerlei Bedauern aus. Vielleicht lag es auch daran, dass er längst begriffen hatte, dass eine Tante für seine wachsende Sehnsucht nach einem weiblichen Wesen nicht das geeignete Objekt war. Abschied denn also, Lebewohl!
Tatsächlich, das Gerücht stimmte! Die Amerikaner zogen mit ihren Jeeps und Panzern über die Zwickauer Mulde ab, und schon einen Tag später marschierte aus dem Osten kommend ein Trupp Russen heran. So ganz und gar finster sahen sie nicht unbedingt aus, eher müde und erschöpft. Aber wie alle Nachbarn hielt auch Uwe gebotenen Abstand und beäugte alles aus gebührender Entfernung. So viel kriegte er mit: Der Trupp nahm in der nahen Kaserne Quartier. Das einzige Gefährt, über das die Sieger verfügten, war ein klappriger Panjewagen mit zwei Gäulen davor, die ziemlich ausgehungert schienen. Bald stellte sich allerdings heraus: Es war nur der Vortrupp gewesen.
Über Nacht kam die Rote Armee sozusagen echt. Uwe wurde aus dem Schlaf gerissen. Das Haus bebte. Draußen auf der Straße erscholl ein gewaltiger Lärm. Uwe machte das Fenster auf und schaute vorsichtig hinaus. Panzer! Riesige finstere Kolosse ratterten in der Dunkelheit. Gespenstig! Gnade jedem Haus, wenn die Monster vom Kurs abkamen. Niemand wagte, Licht zu machen oder gar auf die Straße zu gehen. Aber alle Nachbarn waren hellwach. So zwanzig, gar wohl dreißig Panzer tobten lärmend vorbei. Dann war Ruhe, unheimliche Ruhe.
Am nächsten Morgen schien nichts geschehen. Was nicht stimmte. Die Straße, auf der die Ungetüme gekommen waren und deren Asphalt sich sowieso nicht im besten Zustand befunden hatte, war aufgewühlt und zur Minna gemacht. Nachbarn regten sich auf. Aber Vater bemerkte beim Abendbrot ruhig, das sei alles keiner Aufregung wert, weil mit barbarischem Krieg nicht zu vergleichen. Tatsächlich: Die Familie war heil davongekommen, man hungerte zwar, war aber einigermaßen gesund. Nur das zählte! Und das bedeutete: Man konnte sich für das Leben interessieren. Was Uwe vielleicht gar nicht so bewusst geworden wäre, wenn er nicht eines Tages ein Erlebnis gehabt hätte, das ihm bislang noch nie widerfahren war.
An Uwe ging eine junge Frau vorbei! Einfach so! Eigentlich und wirklich nichts Ungewöhnliches. Doch die Erscheinung just dieses bestimmten Fräuleins traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Unfassbar! Eine Welle bislang unbekannter Emotion schoss ihm plötzlich heiß und gewaltig durch alle Glieder, ohne dass er sich irgendwie hätte wehren können. Was er übrigens weder gewollt noch getan hätte, denn es war ein unheimlich berauschendes Gefühl von kribbelnder Aufgeregtheit. Dass es so ganz und gar unerwartet aufwallen konnte, war so phantastisch wie rätselhaft. Beinah hätte er in seiner totalen Verwirrung versäumt, sich umzudrehen und der Unbekannten, die solche Erregung auslöste, noch schnell nachzusehen. Was groteskerweise neue Verwirrung auslöste.
Die Unbekannte, die soeben an ihm vorübergegangen war, hatte nämlich Beine, die nach seiner damaligen Auffassung ganz und gar nicht als ideal anzusehen waren. Sie schienen irgendwie krumm, jedenfalls nicht echt gerade gewachsen. Nur leicht krumm zwar, aber eben irgendwie krumm. Jedenfalls glaubte Uwe, dies trotz seiner Verwirrung deutlich mitbekommen zu haben. Es schien ihm, als hätte die Unbekannte sozusagen minimal O-Beine, die Uwe eigentlich und grundsätzlich bei Frauen gar nicht mochte. Das hatte sich