Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag. Gerhard Ebert
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Zum Glück war nicht zu erwarten, dass die Bomber ihre tödliche Last auf die Heimatstadt werfen würden, denn die gehörte territorial ja nun sozusagen "zu denen", zu den „Siegern“. In dieser Sicherheit gleichsam geborgen war es ein zwar makabres, aber interessantes Spiel zu spekulieren, ob Bomber in Richtung Chemnitz dort abbiegen, also bomben, oder weiterziehen würden nach Dresden. So hockte Uwe gern am Radio und kurbelte nach dem Sender, auf dem jene anonyme Stimme Richtung und Anzahl der Bomber verkündete, die noch immer täglich über sie hinweg zogen. Wenn es um Chemnitz ging, waren dann meist aus der Ferne schwere Detonationen zu hören.
Obwohl also andernorts noch immer der Krieg tobte, kehrte in die Geschäfte der kleinen Stadt urplötzlich ein Hauch von Frieden ein. Die neue Behörde, wer auch immer das sein mochte, hatte offenbar mit Bewilligung der Amerikaner die im Ort aufgefundenen und nicht geplünderten Warenlager zum Verkauf freigegeben. In den Büro- und Papiergeschäften schien sogar der reine Überfluss ausgebrochen. Gar nicht auszudenken, was es da auf einmal alles zu kaufen gab. Leim, Radiergummis, Bleistifte, Reißzwecken. Beim Bäcker hingegen sah es anders aus. Gerade, dass es ein wenig Brot gab. Und beim Fleischer waren die Konservenbüchsen schnell ausverkauft. Aber immerhin, nach Jahren des Krieges und der Entbehrungen war auf einmal, wenn auch nur kurze Zeit, spürbar geworden, wozu Geschäfte eigentlich existieren.
Immer öfter hockte Uwe am Radio und wartete auf den Frieden. Bei Torgau an der Elbe waren sich Amerikaner und Russen begegnet, hatten den nahen Sieg gefeiert, aber in Berlin schien der Wahnsinn kein Ende zu nehmen. Vater kommentierte die von dort kommenden Aushalte-Parolen immer bissiger. Wie überhaupt sollte es weitergehen?
Als im Ort ein Aufruf an die Jugend erschien, sich für den Neuaufbau zu engagieren, verirrte sich Uwe neugierig ins Rathaus, wo angeblich Rat und Hilfe erteilt wurde. Er staunte nicht schlecht, dort hinter einem Schreibtisch seinen Geschichtslehrer anzutreffen, dessen markig-stramme Art, den Hitler-Gruß zu absolvieren, er noch nicht vergessen hatte. Der Herr faselte von einer neuen Zeit und hielt Uwe Goethes "Faust" vor die Nase. Jetzt gelte es, die Klassiker zu lesen. Uwe war nicht gut bei Ohr, überlegte nur krampfhaft, ob dieser Herr bislang gelogen hatte oder ob er nunmehr log. Er verließ das Rathaus geradezu fluchtartig. So hatte er sich das nicht gedacht mit dem Neuanfang.
Endlich kam im Radio die Nachricht, dass die deutsche Wehrmacht in Berlin-Karlshorst kapitulierte. Uwe öffnete das Fenster und hätte am liebsten allen, die auf der Straße zufällig vorbeigingen, die frohe Botschaft vom endlich eingetretenen Frieden zugerufen. Er wartete sehnsüchtig auf seine Eltern. Vater und Mutter waren im Garten gewesen, hatten dort nach dem Rechten geschaut, auch wohl versucht, etwas Nahrhaftes zu ernten. Endlich bogen sie um die Ecke. Als sie vor der Haustür anlangten, rief er ihnen die sehnlichst erwartete Neuigkeit zu. Vater schien sie gar nicht zu beeindrucken, und Mutter äußerte ihre Zufriedenheit eher beiläufig.
Am Abend dann, am karg gedeckten Tisch, verstand Uwe die laue Reaktion seiner Eltern.
„Wir werden den Gürtel noch enger schnallen müssen!“ konstatierte Vater und öffnete die vorläufig letzte Büchse Fleisch.
„Hoffentlich kommt nun keine Hungersnot“, ergänzte Mutter.
Ohne Zweifel: Eine sehr ungewisse Zeit stand bevor. Dennoch: Endlich war Frieden! Und der Alltag, wusste Uwe inzwischen selber recht gut, würde der Alltag bleiben und auf lange Zeit wahrscheinlich noch verdrießlicher sein als bisher.
7. Schachmatt
Nun also herrschten die Amis in der Stadt, und damit war zur Gewissheit geworden, dass Uwe nicht noch zum Militär und in den Krieg ziehen musste. Wie froh er darüber sein konnte, wurde ihm noch einmal bewusst, als Tante Else unerwartet im Elternhaus erschien, schwarz das Kleid und schwarz die Schuhe. Wieder schrie und klagte sie erbarmungswürdig. Ihr Sohn Gottfried sei tot, als ob das nicht gereicht hätte! Nun sei auch noch ihr lieber Mann umgekommen. Alle Hoffnung war vergebens gewesen. Onkel Erich hatte zwar die Kampfhandlungen heil überstanden, war dann aber in amerikanischer Gefangenschaft gestorben.
Tante Elses Schicksal war wirklich tragisch, aber es berührte Uwe letztlich nicht. Er hatte mit Onkel Erich und Cousin Gottfried herzlich wenig zu tun gehabt, hatte sie mal gesehen bei gegenseitigen Besuchen. Nun also waren sie aus seinem Leben verschwunden. Und dieses Leben hatte für den jungen Mann nunmehr andere und für ihn wichtigere Probleme parat. Beispielsweise musste er emsig für die wieder in Gang gekommene Oberschule arbeiten; denn ein sehr begabter Schüler war er nicht. Weil er aber nicht nur büffeln wollte, schaute er sich auch immer wieder nach Abwechslung um.
In einer Kleinstadt gibt es zwar nicht allzu viele Möglichkeiten, sich in freier Zeit zu betätigen. Aber in diesen Monaten nach dem Kriege, in denen alles neu anzufangen schien, wurde jede sich bietende Gelegenheit wahrgenommen. Zum Beispiel, sich sonntags als Zuschauer auf dem Sportplatz einzufinden, für die ortseigene Fußball-Mannschaft zu fiebern und - je nach Glück des Tages - ein, zwei Mal oder gar öfter so richtig kräftig "Tor!" zu schreien. Wer das nicht erlebt hat, kann gar nicht beurteilen, was es bedeutet, nach einem verlorenen Spiel einen nicht los gewordenen "Tor"-Schrei wieder mit nach Hause nehmen zu müssen. Solch verklemmter Schrei konnte Uwe noch tagelang tief in der Seele stecken.
Da der VfB Glauchau über einige Zugänge von guten Fußballern verfügte, die es nach Ende des Krieges in die Stadt an der Zwickauer Mulde verschlagen hatte, zum Beispiel den Klassestürmer Vogl, einen Nationalspieler aus Wien, waren recht oft sehr spannende Spiele zu erleben. Auch war solch Bürgerversammlung in frischer Luft immer eine Gelegenheit, diesen oder jenen Bekannten zu treffen und zu sprechen, oder - meist mit gewissem Neid - zu sehen, dass ein Mädchen mit festem Freund auftauchte, das einem irgendwann aufgefallen war und dessen Freund man selber gern gewesen wäre.
Selbst Sport zu treiben, kam für Uwe allerdings nicht in Frage. Warum er so untalentiert war, wusste er nicht. Beim Weitsprung zum Beispiel in der Schule machte er stets klägliche Figur. Als sich Turn-Veteranen, die den Krieg heil überlebt hatten, in ihrer anhaltenden Sportbegeisterung einfallen ließen, die Schüler wegen Pflege der Gesundheit einmal in der Woche abends zu einer Turnstunde kommandieren zu lassen, war das die reine Hölle für Uwe. Immer wieder drückte er sich mit Ausreden und war froh, als den aufdringlichen alten Männern ihre eigene Initiative lästig wurde und die Unternehmung einschlief.
Briefmarken sammeln kann man als Sport eigentlich nicht bezeichnen. Aber wenn, dann war Uwe ein leidenschaftlicher Sportler. Angefangen zu sammeln hatte er noch vor 1945, angeregt wahrscheinlich von der Sammelei, die sich durch Vaters Rauchen ergab. In jeder Zigarettenschachtel nämlich, die er kaufte, befand sich ein kleines buntes Bild, natürlich vom Krieg und von der Wehrmacht, wie konnte es auch anders sein. Doch es war nun mal ein gewisses Vergnügen, in das Album, das es zu kaufen gab und in dem die Bilder nur als Nummer und ab und an schwach als Zeichnung angegeben waren, eines Tages das entsprechende bunte kleine Bild einzukleben.
Ähnlich war das bei den Briefmarken, bei denen es obendrein so viele teils teure und nicht zu erhaltende Abweichungen gab. Aber Hoffnung konnte man immer haben, eines Tages doch an eine Marke zu geraten, die eine hoch geschätzte Besonderheit hatte. Jedenfalls war Uwe über derlei Ausnahme-Probleme bei Briefmarken gut informiert, so dass er hellwach war, als sich die Glauchauer Post 1945 entschloss, den eigentlich zu vernichtenden Hitler-Marken den schwarzen Aufdruck „Kreis Glauchau“ zu verpassen, um sie weiter verwenden zu können. Uwe ahnte ungeheuren Gewinn und kaufte, so viel er bezahlen konnte. Wenige Zeit später aber waren die Marken verboten, Geschäfte damit nicht zu machen.
Immerhin hatte Uwe eine Sportart ausgefunden, der er