Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag. Gerhard Ebert
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag - Gerhard Ebert страница 12
Zu Hause verzog sich Uwe in seine Bodenkammer, warf sich aufs Bett und starrte an die Decke. So sehr er sich bemühte, sich an das Gesicht der Unbekannten zu erinnern, es misslang. Nicht die Spur ihres Antlitzes ließ sich in der Vorstellung entwerfen. Uwe konnte das nicht fassen. Schließlich war da ein lebendiges junges Weib an ihm vorbeigegangen. Dessen Erscheinung musste sich doch erinnern lassen! Vergebens. Nur diffuse Schemen formten sich vor seinem geistigen Auge.
Uwe erhob sich, eilte die Treppe hinab und hinaus auf die Straße. Die Hoffnung, diesem seltsam erregenden Frauenzimmer per Zufall noch einmal zu begegnen, trieb ihn durch die halbe Stadt. Vergebens. Bis in winklige dunkle Gassen der Unterstadt verschlug es ihn, wo ihm nie so ganz geheuer war, weil da irgendwelche Rüpel einfach so aus Übermut oder gar mit ärgerlichen Absichten über einen herfallen konnten. Gar nicht auszudenken, wenn die Unbekannte aus dieser Gegend stammte. Wie sollte er da Kontakt kriegen? Und Kontakt, Kontakt irgendwie, das schien ihm, müsste er wenigstens versuchen.
Langsam, ganz langsam wurde er wieder Herr seiner Sinne. Immerhin, sagte er sich einigermaßen gerührt, gibt es also in dieser rund 30000 Einwohner zählenden Kleinstadt ein junges Fräulein, das, obwohl es nur einfach an ihm vorbeiläuft, ihn völlig außer aller Fassung bringt! So dramatisch, dachte er, sich schon wieder erregend, beginnt vielleicht die wahre Liebe. Neue Aufregung überfiel ihn. Liebe! Sollte die so über einen hereinbrechen? Schließlich war er lediglich ganz arglos auf einer Straße daher gegangen.
Ein nettes Mädchen zum Plaudern, gar Küssen und vielleicht und hoffentlich sogar noch mehr hätte er schon wirklich gern gehabt. Aber bisher hatte er immer gedacht, dass er als Mann aussuchen und auswählen muss, etwa bei den hübschen Verkäuferinnen in der Hauptstraße. Man muss auf die Ausgespähte warten, bis sie Dienstschluss hat, ihr dann folgen und sie irgendwie ansprechen. Den Versuch hatte er allerdings noch nicht gemacht. Die eine oder die andere hätte ihm schon gefallen, doch er war stets zu feige gewesen.
Wenn er jetzt darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass er als Mann aktiv werden musste. Sonst würde er wohl immer allein bleiben. Aber wenn nun plötzlich auf der Straße die "Eigentliche" vorbeikommt? Eine Frau, die zwar überhaupt nicht dem sorgsam gehegten Ideal entspricht, dem man unbedingt nachlaufen würde, die einen aber dennoch entgegen eigener Absichten erregt und völlig aus der Bahn wirft?
Erschöpft vom Fußmarsch durch die Straßen kehrte Uwe nach Hause zurück. Stumm setzte er sich zu Tisch und aß das karge Abendbrot, das die Eltern für ihn hatten stehen lassen. Jeder neugierigen Frage, die sich vor allem Mutter nicht verkneifen konnte, wo er denn so lange gewesen sei, wich er aus, dann verzog er sich wieder in seine Kammer.
Es begann eine qualvolle Zeit. Manchmal hielt er seine unerfüllte Sehnsucht nach einem völlig unbekannten Mädchen für total übertrieben. Je länger er darüber nachdachte, desto grotesker schien ihm die Welt eingerichtet. Da lief einem ein Mädchen über den Weg, das zwar, zugegeben, nicht seinem Wunschbild entsprach, das aber ungeahnte, bisher völlig unbekannte Empfindungen in einem auslöste. Warum das?
Und dann: Weshalb lief das Mädchen so einfach an einem vorbei? Hieß das, dass er ihr offenbar völlig schnuppe war? Gewiss. Anders konnte es gar nicht sein. Obwohl, auch er war ja weitergegangen, anstatt prompt kehrt zu machen, dem Mädchen nachzugehen und ihm einfach zu sagen: "He, hör zu, so plötzlich das auch kommt und so närrisch es sein mag: Du gefällst mir!" Vielleicht hätte sie blöd geguckt, ihn einen Spinner genannt oder so etwas Ähnliches, und er wäre gedemütigt abgezogen. Aber vielleicht hätte sie auch gesagt: "Oh, Junge, prima, dass du den Mut hast, du gefällst mir auch!" Dann wären sie gemeinsam weitergegangen, und eine große Liebe hätte ihren Lauf genommen. Wenn! Ja, wenn das Wörtchen wenn nicht wäre!
9. Schande, ein Deutscher zu sein
Elender Trott in der Schule. Wenig Lehrer, unerfahrene Neulehrer, vom Krieg in die Kleinstadt verschlagene Intellektuelle, nun bemüht, mit Doziererei Geld zu verdienen. Uwe berührte das alles wenig. Bis auf ein Ereignis, das er nie wieder vergessen sollte.
Er hatte einen Lehrer, aus seiner Sicht schon uralt, unnahbar und verknurrt, der nur das Fach Biologie unterrichtete und nach der sogenannten Entnazifizierung im Schuldienst hatte bleiben dürfen. Dieser Herr Pfister kam eines Morgens in die Klasse, knallte seine Bücher aufs Pult, postierte sich dahinter, schaute grimmig in die Runde und fragte kategorisch:
„Damen und Herren, haben Sie schon die neuesten Nachrichten gehört?“
Die Frage erstaunte die Klasse maßlos, denn Herr Pfister hatte früher nie auch nur irgendeine Lippe riskiert, schon gar nicht über neueste Nachrichten, sondern hatte Jahr für Jahr so stur wie leidenschaftslos sein Fach absolviert und konsequent nur über Biologie, über Menschen, Tiere oder Pflanzen gesprochen. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er jetzt grimmig fort:
„Ich sage Ihnen, wenn Sie hören, was die Nationalsozialisten in Buchenwald und in Auschwitz verbrochen haben, werden Sie Gott danken, dass die Alliierten diese Mörder endlich zum Teufel gejagt haben!“
Niemand in der Klasse rührte sich, alle staunten und machten große Augen. Ratloses Schweigen.
„Haben Sie wirklich keine Ahnung?“ fragte er jetzt vorwurfsvoll in die Stille hinein. Niemand rührte sich.
„Lassen Sie sich gesagt sein, Damen und Herren...“, rief er, unterbrach sich aber, klopfte zur Bekräftigung mit dem Zeichenstock wütend gegen das Pult, und fuhr fort:
„...diese ungeheuren Verbrechen in deutschem Namen werden das deutsche Volk ewig verfolgen! Ewig! Ewig!“
Nach diesen Worten nahm der alte Herr, der soeben noch viel älter geworden zu sein schien, Platz hinterm Pult, stützte seinen Kopf in die Hände und starrte über die Schüler hinweg ins Leere. Kaum verständlich, aber wegen der Stille dennoch gut vernehmbar murmelte er:
„Schande, ein Deutscher zu sein! Schande!“
Quälende Ruhe im Klassenraum. Jeder duckte sich hinter seinem Vordermann weg, weil er fürchtete, von dem Alten aufgerufen zu werden. Aber der schwieg jetzt, schwieg beharrlich als sei er zur Salzsäule erstarrt. Die ungewohnte, angespannte Stille war jetzt wie eine schwere Last. Man wagte nicht, sich zu rühren, geschweige denn dem Nachbarn etwas zuzuflüstern. Endlich fasste sich der Klassenprimus ein Herz. Uwe Stübe hob die Hand, wartete nicht auf des Lehrers Reaktion, sondern fragte scheu und leise:
„Entschuldigung, Herr Pfister, was ist passiert?“
Das war grundehrlich gemeint, wirkte aber wie eine Provokation. Prompt schoss wieder Leben in den alten Mann.
„Was passiert ist?“ tobte er laut. „Was passiert ist? Wo lebt ihr denn? Hört ihr keine Nachrichten? Die Nazis haben Hunderttausende unschuldige Menschen in Konzentrationslagern umgebracht, Juden, Kommunisten, Christen, Sozialdemokraten, Zigeuner! Es ist unfassbar! Es ist unfassbar!“
Und übergangslos, leise jetzt, aber sehr bestimmt, sagte er unerwartet:
„Schluss für heute! Geht nach