Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag. Gerhard Ebert

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Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag - Gerhard Ebert

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Und als die Vorstellung ohne Panne über die Bühne gegangen war, befahl dieser oberste Führer allen Zügen, die Aufführung zu besuchen. Jetzt frohlockte sogar Tante Betty. Wo im ganzen Reich, sagte sie stolz, werden Hitlers Pimpfe nicht ans Gewehr zum Schießen, sondern ins Marionettentheater zu humaner Erbauung geführt!

      Am Tage der ersten Vorstellung schlug Uwe das Herz bis in den Hals. Schon als der Zug in Reih und Glied heran marschierte, war das geradezu eine Sensation. Solch ein strammer Trupp von zwanzig, dreißig Pimpfen hatte sich noch nie in die Georgenstraße verirrt. Wenn, dann zogen sie singend die Lungwitzstraße entlang und über den Chemnitzer Platz. Nun aber bogen sie singend um die Ecke und marschierten nicht etwa durch die Straße, sondern machten vorm Elternhaus Halt. Fenster öffneten sich, Leute blieben stehen und gafften. Eingeweihte wussten natürlich sofort Bescheid.

      Markige Kommandos, und schon formierten sich die Pimpfe zur Reihe, kamen über die Straße, und verschwanden im Hause und trampelten die Holztreppe hoch. Würde der Dachboden die ungewohnte Last überhaupt aushalten? Die Frage hatte sich niemand vorher gestellt. Jetzt wurde dem Uwe doch ein wenig mulmig ums Herz. Er hielt aus! Und die Vorstellung wurde ein voller Erfolg. Drei weitere Aufführungen folgten. Keine Zwischenfälle. Ein Hauch Frieden mitten im Krieg.

      5. Weiße Fahnen

      Der Krieg indessen war bedrohlich nahe gerückt. Fast täglich gab es Fliegeralarm. Meist zogen die Bombengeschwader genau über Glauchau hinweg, wenn sie nach Chemnitz oder Dresden unterwegs waren. Freilich konnte man das nicht wissen. Wenn nachts die hellleuchtenden „Christbäume“ am Himmel standen, diese Markierungen für die Bombenteppiche, war für Laien nie genau ausfindig zu machen, wie die Positionen gemeint waren. Da war man schon beraten, den schützenden Keller aufzusuchen. Andererseits waren die Leute längst abgestumpft. Fast jeden Tag, jede Nacht heulten die Sirenen.

      Uwe eilte dann immer schnell zum Radio und stellte einen bestimmten Sender ein. Seit Tante Betty bei ihnen wohnte, stand ihm nämlich ein Geheimpapier zur Verfügung, eine Landkarte von Deutschland, überzogen mit einem Rasternetz aus Quadraten, gekennzeichnet mit Buchstaben von AA bis ZZ. Irgendein Offizier der Luftwaffe hatte ihr die besondere Landkarte noch in Bremen zugespielt. Mit dem Dokument hatte sich Uwe ein Geheimnis gelüftet. Schon manchmal nämlich war er bei seinen Exkursionen auf der Senderskala auf eine Stimme gestoßen, die in monotoner Abfolge verkündete, dass ein feindlicher Bomberverband beispielsweise von CA nach BA oder von KF nach KE unterwegs sei. Mit Hilfe der Karte von Tante Betty konnte er diese Meldungen nun entschlüsseln. Wenn die Sirene aufheulte, wusste er stets sehr schnell, sofern nicht gerade Stromsperre war, ob sich ein feindliches Aufklärungsflugzeug näherte oder Bomberverbände. Er konnte aufgrund der Flugroute auch meist abschätzen, welchen Kurs sie höchstwahrscheinlich nehmen würden. Wenn sie zum Beispiel offensichtlich Leipzig ansteuerten, dann brauchten er und die übrigen Hausbewohner nicht unbedingt in den Keller zu rennen. Wenn sie allerdings über Leipzig hinaus weiter gen Osten flogen, dann war Vorsicht geboten.

      Schließlich vergingen die Tage nur noch mit Warten, nämlich darauf, welcher Feind wohl zuerst in Glauchau einrücken würde, die Amerikaner oder die Russen. Die Nachrichten im Radio widersprachen sich immer öfter, und die Unruhe wuchs, sobald die Flüsterpropaganda irgendwelche Truppenbewegungen verkündete. Mal standen die Russen schon kurz vor Chemnitz, mal hatten die Amerikaner schon Gera besetzt. Man wurde nie schlau daraus, ahnte aber immer Schlimmeres. Indessen: Wozu überhaupt noch Schießerei? Die Sache war doch klar. Der Krieg war verloren. Weshalb noch Menschen töten? Die einfachen Leute von der Straße wurden halt nicht gefragt. Im Moment schon ganz und gar nicht. Im Moment hatten sie nur alles auszubaden.

      Mitte Mai 1945 stand das Leben in der Stadt irgendwie still. Vater ging nicht zur Arbeit, denn die Firma hatte mangels Aufträgen geschlossen. Auch die Schule hatte große Pause. Was sollte werden? Seit Tagen hatte Uwe keinen deutschen Soldaten mehr zu Gesicht bekommen. Das war irgendwie unheimlich. Als neulich denn doch ein Konvoi von Militärfahrzeugen über den Chemnitzer Platz gefahren war, nicht zur Kaserne, sondern hinaus aus der Stadt ostwärts in Richtung Gasthof "Bismarck-Höhe", nährte dies unerwartete "Defilee" – wie es schien noch recht propperer, undezimierter deutscher Truppen – groteskerweise das längst absurde Gefühl, dass da irgendetwas zu gewinnen wäre. Anstatt froh zu sein, dass der Krieg bald vorbei sein würde, klammerten sich einige Leute plötzlich an die vorüberziehende Existenz dieses Militärs, als sei noch nicht alles verloren. Dabei war inzwischen unumstößliche Tatsache: Die Amerikaner hatten Thüringen eingenommen, standen kurz vor der Mulde im sächsischen Glauchau. Und die Russen im Osten rückten unaufhaltsam auf Dresden vor. Es war nur die Frage, wer eher einziehen würde: der Sieger aus dem Osten oder der aus dem Westen.

      Für Berlin war die Frage bereits beantwortet. Da würden die Russen die Ersten sein. Für Uwes Heimatstadt hingegen war noch alles offen. Nach Lage der Dinge, was so im Rundfunk gemeldet und von den Leuten erzählt wurde, war es wünschenswert, von den Amerikanern besetzt zu werden. Aber noch war es nicht so weit. Außer Geschützdonner in der Ferne war vorläufig nichts los. Das Gerücht kam auf, die Amerikaner würden, um den Russen zuvor zu kommen, Glauchau umgehen und mit Panzern auf der Autobahn in Richtung Chemnitz vorstoßen. Genau wusste das niemand. Die Leute trauten sich zwar auf die Straße, auch bis zur Ecke mit Blick zum Chemnitzer Platz, aber weiter ging man lieber nicht. Und von draußen vom Lande ließ sich niemand blicken, der hätte erzählen können.

      Neu an der Situation war, dass die Sirenen nicht mehr heulten, es also keinen Luftalarm mehr gab. Wahrscheinlich lag es einfach nur daran, dass im Rathaus oder sonst wo keiner mehr saß, der auf den Knopf für die Sirene drückte. Zögernd zwar, doch immerhin hatten die Eltern von Uwe mit den drei Geschwistern das Kampieren im muffigen, nasskalten Keller aufgegeben und wieder in der Wohnung des kleinen Reihenhauses Quartier genommen. Das war zwar durchaus etwas fahrlässig, vielleicht würden Kampfhandlungen über sie hereinbrechen, aber ziemlich klar schien, dass mit Bombenangriffen nun nicht mehr zu rechnen war.

      Die Bomber-Geschwader mit den sie eskortierenden Jägern flogen stets in großer Höhe über das Haus hinweg gen Osten. Nachts leuchteten weithin die "Christbäume" für den Abwurf der Bomben. Manchmal allerdings schwebten die Monster so bedrohlich nahe am Himmel, dass die Leute befürchteten, sie galten ihnen. Wenn Uwe in der Dunkelheit die Flugzeuge zwar hören, aber nicht sehen konnte, war das jedes Mal eine Zeit höchster Anspannung. Die Eltern duldeten, dass die Kinder mit ihnen in den nächtlichen, so bizarr illuminierten Himmel starrten.

      Stets kam Erleichterung auf, wenn sie ferne Detonationen hörten. Das war das sichere Zeichen, dass die Bomben anderswo abgeladen wurden. Beispielsweise in Chemnitz. Offenbar glaubten die Amerikaner, dass in Glauchau, zumindest in der Oberstadt, kein Militär mehr stationiert war. Was nicht stimmte. Es gab drei Kasernen in der Stadt, zwei sogar in der Nähe. Die eine kaum dreihundert Meter entfernt, auf der anderen Seite des Chemnitzer Platzes gelegen, die andere weiter ab, so in etwa zehn Minuten Fußmarsch zu erreichen. Wie viel Militär sich dort noch aufhielt, gar kampfentschlossene Einheiten, wusste niemand. Weil aber Ruhe war, jedenfalls in der Stadt, entschlossen sich die Leute, die Keller zu verlassen. Es schien, als fürchteten sie, im letzten Moment des Krieges irgendetwas Entscheidendes zu verpassen.

      Die vergangene Nacht war sehr unruhig gewesen. Wie ein Lauffeuer hatte sich herumgesprochen, dass in der Unterstadt in einer dritten, aber verlassenen Kaserne massenhaft gehortetes Büchsenfleisch entdeckt worden war. Sich dorthin zu wagen, bedeutete, den Amerikanern geradezu entgegenzugehen. Aber hungrige Menschen haben ihre eigenen Gesetze. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit hatten sich einige kriegserfahrene alte Männer mit Handwagen auf den Weg gemacht. Sie kalkulierten, dass die Amerikaner in der Nacht nicht angreifen würden. Der Vater von Uwe war auch dabei gewesen.

      Am frühen Morgen, als die Kinder aufgestanden waren, sahen sie im Keller mehrere Kisten voller Büchsen gestapelt. Mutter überraschte sie zum Frühstück mit viel Fleisch auf wenig Brot. Vater war in der Nacht heil und mit reicher Beute nach Hause zurückgekommen. Dass er Uwe nicht

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