Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag. Gerhard Ebert
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Was ihm immerhin auffiel war, dass die Gorvin exzellent prononciert sprach, eigentlich so außerordentlich schön, dass man geneigt war, mehr auf diese absolute Schönheit der Sprache zu achten und weniger auf das, was mit ihr gesagt werden sollte. Uwe hütete sich, Lothar seinen Eindruck mitzuteilen. Vielmehr gab er sich nach der Vorstellung alle Mühe, so zu tun, als hätte er alles verstanden. Das gelang ihm insofern recht gut, als eine Verständigung während einer S-Bahn-Fahrt ohnehin kaum glatt verlaufen kann, zumal wenn man dauernd gestört wird. Ab Friedrichstraße mischte sich nämlich ein angetrunkener Berliner beharrlich ein und versuchte, sein Thema an den Mann zu bringen. Zum Glück reagierte Lothar sanft, also hörten sie sich ein Lamento über eine schlampige Ehefrau an. Als sie den Betrunkenen endlich los wurden, war ihnen das Reden vergangen. Ziemlich wortkarg, wohl nun auch müde, trafen sie wieder in Lothars Elternhaus ein.
Am nächsten Vormittag hatten sie noch einmal eine Beratung machen wollen. Aber Siegfried erschien überhaupt nicht, und Christa kam nur vorbei, um wenigstens auf Wiedersehen zu sagen, denn am Nachmittag musste Uwe zurück nach Sachsen. Was den drei Westberlinern so schien, als würde er direkt nach Sibirien verschwinden. Sie redeten bei dem kurzen Treff über alles Mögliche, aber mit der Gründung einer Partei hatten sie es offenbar nicht so eilig. Eigentlich, fand Uwe plötzlich, ging es ihnen verdammt gut. Sie hatten vor zu studieren, welcher Absicht nichts im Wege zu stehen schien, so dass die Gründung einer Partei für sie ohnehin nicht das vordringlichste Problem war.
Bei ihm, Uwe, war die Lage anders. Welchen Weg in die Zukunft er einschlagen sollte, war noch völlig ungewiss. Eine Lehre als Schriftsetzer war angedacht, mehr aber nicht. Und gestern hatte es fast so ausgesehen, als würde eine politische Laufbahn in einer Partei auf ihn zukommen. Und dies gar in einer selbst gegründeten! Doch wenn er es jetzt recht bedachte, hatten die vier in der vergangenen Nacht nicht mehr als eine echte Schnapsidee geboren. Was den hellen Berlinern längst klar war, nur Spinner Uwe aus der Provinz träumte noch davon. Auf der Fahrt von Zehlendorf zum Ostbahnhof wachte er endlich auf.
Lothar und Siegfried hatten es sich nicht nehmen lassen, ihn zum Zug zu bringen. Auf der langen S-Bahn-Fahrt dahin trafen die beiden einen Bekannten, dem sie Uwe vorstellten und dem sie über ihn erzählten. Darüber, dass er in den Osten zurück wolle. Dabei nahmen sie es, stellte Uwe überrascht fest, mit der Wahrheit nicht recht ernst. Sollte er protestieren? Konnte das gut gehen, wenn die Gründer einer "Ehrlichkeits-Partei“ so mit den Tatsachen umgingen? Uwe schüttelte innerlich den Kopf und begriff, dass die Welt verloren war. Zumindest war deren Rettung von Lothar und Siegfried nicht zu erwarten. Die Enttäuschung war groß und der Abschied kurz und kühl.
Für die Heimfahrt hatte Uwe eine Verbindung über Dresden gewählt. Der Zug war mehr als voll. In den Gängen hockten undefinierbare Gestalten. In seinem Abteil schienen ein, zwei alte Männer einigermaßen vertrauenswürdig. Sie redeten über Gott und die Welt. Als es schon dunkelte, nahm das Gespräch auf einmal eine für Uwe dramatische Wende. Ein junger Mann im Abteil, den Arm in einer Binde, also wohl ein Verwundeter, der dem Krieg gerade noch entkommen war, behauptete plötzlich, in Dresden auf dem Hauptbahnhof, wo Uwe ja umsteigen musste, würden die Russen vor allem nachts kontrollieren und junge gesunde Männer herausfischen, um sie in den Uran-Bergbau zu transportieren.
So ungeheuerlich das klang, aber es konnte stimmen. Uwe wurde heiß und kalt. Auf einmal waren ihm alle Mitreisenden vertrauenswürdig. Er sprach von seinem Reiseziel. Allen schien es sehr risikovoll, als junger Mann nachts in Dresden umzusteigen. Einer der alten Herren riet Uwe, in Riesa den D-Zug zu verlassen und von da mit dem Bummelzug in Richtung Chemnitz zu fahren. Das konnte zwar bedeuten, dass er über die Nacht irgendwo in der Provinz auf einem kalten Bahnhof hocken würde, weil kein Anschluss mehr war, hieß aber, Dresden gemieden zu haben. Jemand kramte einen Fahrplan hervor, und tatsächlich, wenn alles klappte, konnte Uwe in der Nacht ab Riesa sogar bis Chemnitz kommen. Längerer, vielleicht auch ungewisser Aufenthalt würde in Döbeln sein.
Uwe wagte das Risiko und stieg in Riesa aus. Tatsächlich, der Anschluss nach Döbeln klappte, aber dort war Schluss. Kein Zug, Bus schon gar nicht. Die Nacht war kalt, doch niemand kam, um Uwe irgendwie zu kontrollieren. Früh am Morgen fuhr ein Zug nach Chemnitz. Nun war es nicht mehr weit nach Hause. Als er endlich in dem Zug saß, der ihn nach Glauchau befördern würde, atmete er auf, todmüde zwar, aber froh darüber, nicht abtransportiert worden zu sein.
Kaum jedoch war der Zug auf der Strecke, wich die gute Stimmung der Überzeugung, dass die Reise eigentlich so gut wie nichts gebracht hatte. Aber er tröstete sich. Immerhin war er in Berlin gewesen! Und schließlich und endlich: Die Erlebnisse mit Lothar ließen es ratsam erscheinen, der Politik künftig noch vorsichtiger zu begegnen! Wahrheit und Politik, das ahnte er dunkel, waren wohl nie zusammen zu bringen. Andererseits musste es Menschen geben, die sich für Wahrheit und Ehrlichkeit engagierten. Doch musste das unbedingt Uwe sein? Als er in Glauchau ankam, hatte er noch keine befriedigende Antwort gefunden.
12. Die Schülervertretung
So nachdrücklich sich Uwe Zurückhaltung verordnet hatte, seine Stippvisite in Berlin blieb nicht ohne Folgen. Er hatte einen neuen Blick für die Probleme seines Lebens gefunden. Vor allem die Sache mit der Partei ließ ihn nicht los. Schließlich musste er keine gründen, es gab ja welche. Aus Neugier wurde alsbald Interesse, und zwar für die CDU.
Uwe empfand sich nicht unbedingt als Christ. Seine Beziehung zur Kirche hatte im Besuch der Messe am Heiligabend bestanden, was stets in Familie geschehen war, und in der obligatorischen Teilnahme an der Konfirmation. Das geistige Gut, das er mitgenommen hatte, war nicht Gottvertrauen, aber Nächstenliebe und durchaus auch, ja, Wahrheitsliebe. Obwohl man es damit nicht übertreiben durfte. Schummeln musste man gelegentlich. Zum Beispiel Abschreiben in der Schule. Also gemach mit hehren Gedanken. Berlin war ihm eine Lehre.
Eines Tages stand Uwe vor der Geschäftsstelle der CDU in der Leipziger Straße, zögerte nur kurz, dann ging er hinein. Zwischen Akten und Prospekten saß ein alter Herr, schaute neugierig auf und fragte gemütlich nach dem Begehr. Uwe signalisierte Interesse und fragte, ob er Informations-Material bekommen könne. Erfreut griff der Alte in ein Regal und überreichte Uwe einige dünne Broschüren. Selbstverständlich ganz unverbindlich! Uwe dankte und huschte auch schon wieder hinaus.
„Ex oriente lux“ war offenbar das Markenzeichen dieser Partei. Jedenfalls prangten die drei Worte auf jedem Papier. Uwe beschäftige sich gründlich und fand die Sache mit dem christlichen Sozialismus durchaus bedenkenswert. Kapitalismus war vorbei, das war klar. Kommunismus war ein vages Ideal. Aber Sozialismus, und zwar ein christlich-demokratischer, schien ihm nach der faschistischen Diktatur ein echt gutes Ziel.
Als der Professor Hickmann von der CDU aus Dresden zu einem Vortrag angekündigt wurde, ging Uwe zur Veranstaltung. Das Publikum schien ihm ziemlich alt und abgestumpft. Und die Zukunftsprognosen vom Professor eher vage. Wegen der herrschenden Besatzungsverhältnisse in Deutschland gäbe es leider viele offene Fragen. So blieb Uwe vieles unklar, zum Beispiel was unter Blockpolitik der antifaschistisch-demokratischen Parteien zu verstehen sei. Dennoch reifte noch während der Veranstaltung der Entschluss, in diese Partei einzutreten. Der Professor hatte mit seiner ruhigen Gewissheit Vertrauen geweckt. Schließlich musste man nicht alles auf eine Goldwaage legen. Und das war offenbar: In Sachen Demokratie liefen die Dinge unter den Russen etwas anders als unter den Amis.
Uwe hatte nicht vergessen, dass ihm unter den Amerikanern im Rathaus als Berater für die Jugend ein ehemaliger Nazi-Lehrer begegnet war, jedenfalls einer, den er als offenbar treuen Nazi in seiner Schule kennengelernt hatte. Als die Russen gekommen waren, und Uwe - neugierig wie er nun einmal war - erneut das Rathaus aufgesucht hatte, saß an der nämlichen Stelle ein Greis mit zerfurchtem Gesicht und riet: „Arbeiten müssen wir, Junge, arbeiten!“ Dazu hatte er bedeutsam genickt und Uwe angeblickt, als sei der hinfort ganz allein dafür verantwortlich.
Jedoch: Wahrscheinlich